Die Erzählungen des Zeitzeugen Friedrich Zawrel, einem Überlebenden des nationalsozialistischen "Kindereuthanasie"-Programms in Wien, zählen zu den erschütterndsten Zeugnissen österreichischer Zeitgeschichte. Seine Lebensgeschichte steht auch stellvertretend für die jahrzehntelange Verdrängung der NS-Vergangenheit in Österreich und den Unwillen sich dieser Verantwortung zu stellen.
Friedrich Zawrel, Jahrgang 1929, wuchs bei seiner Mutter in Wien in sozial prekären Verhältnissen auf. Infolge einer Delogierung kam er zu Pflegeeltern und später in das Zentralkinderheim der Stadt Wien.
Friedrich Zawrel wuchs in Wien im vorstädtischen Elend der Zwischenkriegszeit auf. Zawrel beschreibt den Hunger und die miserablen Wohnbedingungen seiner frühen Kindheit, in der er oft den ganzen Tag auf sich allein gestellt war.
Friedrich Zawrel, geboren 1929 in Lyon (Frankreich)
Interview: 2010
Interviewort: Wien
Interviewer: Michael Maier
Interviewdauer: 8 Stunden 37 min
Link zu allen 11 Interviewteilen
Diese Ausstellung bietet ausgewählte biografische Portraits aus den rund 600 lebensgeschichtlichen Interviews, die im Rahmen des Oral History-Projekts MenschenLeben entstanden und in der digitalen Sammlung der Österreichischen Mediathek online und in voller Länge verfügbar sind. Hier kann man nicht nur in verschiedene lebensgeschichtliche Erzählungen - in Alltägliches wie Außergewöhnliches -, sondern auch in unterschiedliche Sprechweisen, Weltanschauungen und Emotionen eintauchen. Die biografischen Portraits werden durch private Fotografien ergänzt, die die Interviewpartner_innen in Kopie an die Sammlung MenschenLeben übergeben haben. Um den Kontext der gesamten Lebensgeschichte zu erhalten, verweisen die hier angeführten Hörproben auf einzelne markierte Stellen in den oft mehrstündigen Interviews - ein Weiterhören in den lebensgeschichtlichen Erzählungen ist also möglich und erwünscht.
Nach dem "Anschluss" wurde seine Familie aufgrund seines alkoholabhängigen und vorbestraften Vaters als "nicht mehr förderungswürdig" eingestuft und er selbst, nachdem er der Schule ferngeblieben war, in die NS-Kinderfürsorgeanstalt "Am Spiegelgrund" eingewiesen. Sein Leidensweg führte ihn durch mehrere Heime, wo er auch zweimal vom NS-Euthanasiearzt Dr. Heinrich Gross untersucht wurde und zahlreichen Misshandlungen und Demütigungen ausgesetzt war. Zuletzt war er am Pavillon 17 "Am Spiegelgrund" in einer Gruppe "schwer erziehbarer Jugendlicher" untergebracht. Nachdem er von dort fliehen konnte, wurde er kurz vor Kriegsende verhaftet und verbrachte die Zeit bis zu seiner Befreiung durch die Alliierten im Gefängnis.
Zawrel geriet 1941 als Elfjähriger in die Fänge der NS-Medizin, wird in die NS-Fürsorgeanstalt "Am Spiegelgrund" eingewiesen und als "minderwertig" eingestuft. Dort begegnete er zum ersten Mal dem damaligen NS-Anstaltsarzt Heinrich Gross. Erst später erfuhr Zawrel, dass er aufgrund der Alkoholkrankheit seines Vaters von den Nationalsozialisten als “erblich schwerstens belastet” kategorisiert worden war.
Friedrich Zawrel erinnert sich an eine besonders erniedrigende Untersuchung durch den Anstaltsleiter Primarius Dr. Ernst Illing. Illing, einer der Hauptverantwortlichen für die NS-Kindereuthanasie in Wien, wurde 1946 vom Volksgericht Wien zum Tode verurteilt und gehängt.
Zornig, angesichts des fehlenden Willens zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen im Nachkriegsösterreich bricht Friedrich Zawrel mit der Republik.
Ohne eine abgeschlossene Schulausbildung und enttäuscht von der Republik Österreich, in der er aufgrund seiner Verurteilung durch die NS-Justiz gebrandmarkt blieb, ging er in der Nachkriegszeit den – wie er es im Interview ausdrückt – "kriminellen Weg". Nach mehreren Verurteilungen, meist wegen Eigentumsdelikten, stand er 1975 vor Gericht erneut Dr. Heinrich Gross gegenüber, der nach dem Krieg seine Karriere fortsetzen hatte können und ein psychiatrisches Gutachten über Friedrich Zawrel erstellen sollte. Nicht zuletzt aufgrund dieses Gerichtsgutachtens wurde Zawrel zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Erst mit Hilfe eines Journalisten und der "Arbeitsgemeinschaft Kritische Medizin" gelang es ihm letztendlich, die Öffentlichkeit in Bezug auf Heinrich Gross' NS-Vergangenheit zu sensibilisieren und sich selbst zu rehabilitieren.
1975 begegnet Friedrich Zawrel abermals seinem "Schicksalsarzt" Heinrich Gross, diesmal vor Gericht. Gross, der nach dem Krieg seine Karriere als hochdekorierter Wissenschaftler nahezu unbehelligt hatte weiterführen können, war zu dieser Zeit unter anderem auch als psychiatrischer Gerichtsgutachter tätig.
Das gesamte Interview mit Friedrich Zawrel in 11 Teilen finden Sie hier
Friedrich Zawrel spricht über die traumatischen Nachwirkungen seiner Erlebnisse "Am Spiegelgrund" und wie er durch professionelle Hilfe gelernt hat, sich in den Zeitzeugengesprächen seinen Erinnerungen zu stellen.
Friedrich Zawrel verstarb 2015. In seiner letzten Lebensphase trat Friedrich Zawrel öffentlich als Zeitzeuge und unermüdlicher Mahner gegen das Vergessen der NS-Verbrechen auf. Seine Erlebnisse "Am Spiegelgrund" und im Zusammenhang mit Gross sind zudem Gegenstand mehrerer Film- und Theaterproduktionen.
Friedrich Zawrel erzählt von seiner Zeitzeugenarbeit an Schulen und den positiven Erfahrungen im Umgang mit den Schülern_innen.
Text und Auswahl: Michael Maier, 2023