Die „samtene Revolution“ und die folgende Teilung von Tschechien und Slowakei, der EU-Beitritt Österreichs und der beiden Nachbarländer schufen neue Perspektiven, in denen die Republiksgründungen zunächst eher in die historische Ferne zu rücken schienen.
1989/90 brachte die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei den Zusammenbruch des kommunistischen Regimes. Als einziger der aus dem sowjetischen Machtbereich ausgebrochenen Staaten konnte die Tschechoslowakei an eine erfolgreiche demokratische Tradition anschließen, worunter die Erste Republik verstanden wurde und nicht die wenigen Nachkriegsjahre der „Dritten Republik“ bis zum kommunistischen Staatsstreich. Václav Havels Rede zum 28. Oktober 1990 – dem ersten ‚in Freiheit‘ begangenen Staatsfeiertag – vollzieht diesen historischen Anschluss, sieht sich jedoch gezwungen, nach weniger als einem Jahr der „Freiheit“ den Finger auf einen wunden Punkt des alten sowie des neuen Staates zu legen: nämlich die Konföderation von Tschechen und Slowaken. Zwei Jahre später, zur Jahreswende 1992/93, zerbrach sie tatsächlich und mit ihr zerbrach auch für beide Nachfolgestaaten die Möglichkeit der ungebrochen positiven Erinnerung an die ‚heroische‘ Gründung. Nachdem 1918 der entscheidende Gestaltungswille für die Republik von den Tschechen ausgegangen war, blieb für sie die Republiksgründung weiterhin zentrales nationales Erbe. Allerdings war nun von dem komplexen multinationalen, -kulturellen und vielsprachigen Staat der Ersten Republik konstitutiv fast nichts mehr übrig. Jüdinnen und Juden – bis 1938 als eigene „Nation“ verstanden – waren überwiegend von den Nazis ermordet worden und viele der Überlebenden verließen bis 1948 das Land; die ruthenische Bevölkerung der Karpatenukraine wurden 1945 Teil der Sowjetunion; und die Deutschen wurden 1945/1946 vertrieben. Die Slowaken, die 1918 gemeinsam mit den Tschechen das „Staatsvolk“ gebildet hatten, und mit ihnen die große ungarische Minderheit waren die letzten in der Reihe von Verlusten. Havel schmerzte nicht nur die Trennung der tschechoslowakischen Konföderation als sein persönlich größtes Versagen, sondern er erkannte auch als erster tschechischer Politiker das Unrecht und den Fehler der kollektiven Vertreibung der Deutschen an. Wer dies tut, kann „1918“ nur noch mit einem weinenden Auge feiern. Aber auch tschechische Nationalisten tun sich schwer, „1918“ affirmativ für sich in Anspruch zu nehmen.
In Österreich verfestigte sich der parteiübergreifende Konsens zum „Staat, den keiner wollte“ so sehr, dass er nicht einmal mehr als Urteil post-festum erkannt wurde, sondern mit einer generalisierenden Selbstbeschreibung der Ersten Republik verwechselt wurde. Im politischen und geschichtsdidaktischen Diskurs waren ab den späten 1980er Jahren die Rolle von Österreicher/innen im Nationalsozialismus und die Bearbeitung der österreichischen Opferrolle wichtiger. Das Jahr 1938 dominierte die 8er-Jubiläen und stellte „1918“ in den Schatten. Im Zusammenhang des EU-Beitritts Österreichs 1995 und der EU-Erweiterung von 2004 war es für das österreichische Traditionsbewusstsein erfreulich, die Habsburgermonarchie als multinationalen Staat in Zentraleuropa und als Präfiguration einer europäischen Integration aufzurufen – interessanter als die Erinnerung an den kleinen Nationalstaat, dessen Konzept innerhalb der EU ohnehin immer geringere Bedeutung haben sollte, so schien es.
Der 12. November rückte dabei in den Hintergrund des öffentlichen Gedächtnisses - wenigstens bis zum Gedenkjahr 2018. Dabei könnte er der „Staatsfeiertag“ einer Gemeinschaft sein, die sich nicht als heroisches nationales Subjekt der Geschichte entwirft, sondern als gewordene „Staatsnation“ und fortwährend sich wandelnde Schicksalsgemeinschaft, in einer aktiv-passiven Rolle innerhalb internationaler, europäischer und globaler Zusammenhänge. – Hatte man sich doch 1945 endgültig entschieden, dankbar das anzunehmen, womit man 1918 noch wenig anzufangen wusste: „dieselbe“ Republik!
Text: Georg Traska