Die 1945 wiedererrichteten Staaten griffen erneut auf die Gründungen der Republiken Österreich und Tschechoslowakei zurück. Doch bald wurden in beiden Ländern die Anfänge der Staaten zugunsten anderer Narrative aus dem Zentrum des Gedenkens verdrängt – aus unterschiedlichen Gründen.
Ab 1938/1939 existierten die beiden 1918 gegründeten Staaten nicht mehr. Österreich und die deutschsprachigen Grenzgebiete Böhmens und Mährens gehörten dem nationalsozialistischen Deutschen Reich an. Die übrigen Gebiete Böhmens und Mährens wurden als nationalsozialistisch annektiertes „Protektorat“ kriegswirtschaftlich mit einem Schwergewicht auf Waffenproduktion ausgebeutet und sollten nach dem Krieg „germanisiert“ werden.
In London gründete Edvard Beneš 1940 die tschechoslowakische Exilregierung – aufbauend auf den Erfahrungen von 1917/18, als staatliche Institutionen ebenfalls im Ausland vorbereitet worden waren. Die Exilregierung arbeitete bis Kriegsende erfolgreich an der Annullierung des Münchner Abkommens, das heißt, an der Wiederrichtung des Staates in den Grenzen von 1938, und sie plante die Aussiedlung von großen Teilen der deutschsprachigen Bevölkerung. Von London aus konnte sie mit dem Widerstand kommunizieren, über BBC die tschechoslowakische Bevölkerung erreichen und den Nationalfeiertag als staatssymbolischen Akt – ohne Staat – begehen.
Edvard Beneš zum 25. Jahrestag der Republik: die Situation einer tschechoslowakischen Exilregierung in London 1943 als Déja-vu eines „Staates in Vorbereitung“, aber unter anderen Vorzeichen als während des Ersten Weltkrieges.
Der Theologe Jan Šrámek hält als Ministerpräsident der Exilregierung in London 1940 die traditionelle Weihnachtsansprache an die Tschechen und Slowaken in aller Welt und fordert ein nationales Zusammenstehen im christlich-aufklärerischen Geist gegen die deutschen Nationalsozialisten als Zerstörer der menschlichen Brüderlichkeit.
Österreich schuf während des Krieges keinen der tschechoslowakischen Exilregierung vergleichbaren politischen Körper, erhielt aber in der Moskauer Deklaration (1943) den Status eines Opfers der nationalsozialistischen Expansionspolitik. Zu Kriegsende warteten österreichische Politiker nicht erst die Kapitulation der Wehrmacht und der NS-Führung ab, sondern riefen die Unabhängigkeit Österreichs und die Wiederherstellung der Republik schon am 27. April 1945 aus. Wie schon 1918 war Karl Renner federführend beteiligt, sodass ihm das Verdienst des „doppelten Staatsgründers“ zukommt, das allerdings durch seine opportunistische Erklärung zum „Anschluss“ 1938 getrübt wird. Wenn sich die Formulierung der Unabhängigkeitserklärung durch Renner auf die Verfassung von 1920 beruft, definiert sie den Beginn der Republik, als die Verfassung noch von der großen Koalition beschlossen wurde, als primären Bezugspunkt. Bald darauf wurde allerdings auf Drängen der ÖVP, unterstützt von Adolf Schärf (SPÖ), die Verfassung von 1929 mit ihren erweiterten Rechten des direkt gewählten Präsidenten wiedereingesetzt und damit an 1933 als den „Letztzustand“ der Republik angeschlossen.
Nach Stefan Zweigs „Die Welt von gestern“ (1942) sei Österreich der „Stein in der Mauer“ gewesen, ohne den die unfertige zentraleuropäische Ordnung der Friedensverträge zusammenbrechen musste.
Die Differenzen, die vor 1938 respektive vor 1934 zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen im Verhältnis zur Republiksgründung bestanden, wurden bei den Nachfolgeparteien SPÖ und ÖVP bald wieder sichtbar. Vorerst wurde gar kein Staats- oder Nationalfeiertag (wieder-)eingeführt. Das ist einerseits erklärbar durch die Besatzung Österreichs und die damit verbundene Einschränkung der staatlichen Freiheit und Unabhängigkeit, andererseits dadurch, dass Teile der Bevölkerung die „Befreiung“ durch die Rote Armee als „Niederlage“ des Deutsch Reiches bedauerten. Im sozialdemokratisch dominierten Wien wurde am 13. April der „Tag der Befreiung“ gefeiert. Mit zunehmender Erbitterung über die Dauer der Besatzung verlor dieser Tag aber seine positive Konnotation. Dafür wurde das Ende der Besatzungszeit umso mehr als „Befreiung“ empfunden und 1956 wurde der 26. Oktober erstmals als „Tag der Fahne“ begangen. Eigentlich sollte dieser Tag an die Neutralitätserklärung als ersten freien politischen Beschluss des Landes nach der NS-Zeit erinnern, doch setzte sich als Anlass im kollektiven Bewusstsein vor allem das „Verlassen des letzten Besatzungssoldaten“ (am 25. Oktober 1955) fest. Aus dem „Tag der Fahne“ wurde nach einem großkoalitionären Aushandlungsprozess 1965 der neue „Nationalfeiertag“. Der 12. November als Gründungstag jenes Staates, der in denselben Grenzen wie 1918 (Burgenland 1921 hinzukommend) und in derselben Staatsform 1945 wiederrichtet wurde, spielte im nationalen Festkalender keine Rolle mehr. Er wurde 1945 und zum 30-Jahr-Jubiläum 1948 von beiden Parteien gefeiert, wobei die ÖVP mit „1918“ vor allem den Untergang der nunmehr verklärten Monarchie verband. Je weiter die ÖVP von einem positiven Gedächtnis der Republiksgründung Abstand nahm, desto mehr konnte die Sozialdemokratie sie als ihre Leistung reklamieren – was ein gesamtstaatliches Gedenken an 1918 über Jahrzehnte unmöglich machte. 1958 wurde, da die ÖVP einer Feier im Nationalrat nicht zustimmte, der 12. November nur von SPÖ, KPÖ und FPÖ in den Landtagen gefeiert, wobei für die KPÖ „1918“ vor allem die „verratene Revolution“ bedeutete.
Das 30-jährige Republiksjubiläum 1948 wurde von den beiden eine große Koalition bildenden Parteien mit Vorsicht begangen. Die ÖVP feierte im Wiener Konzerthaus, die SPÖ im Musikverein und Bundespräsident Karl Renner hielt bei den zwei Veranstaltungen unterschiedliche Reden. Die Radioansprache Karl Renners zum 12. November ist in einer allgemeinen Festtagsmetaphorik gehalten, die bei niemandem anecken konnte. Eine gewisse motivische Verdichtung gibt es nur um die Besatzungsmächte, denen man inzwischen gut genug die eigene Regierungsfähigkeit bewiesen habe. Weit interessantere Bestimmungen der Gründungssituation der Ersten Republik findet Renner 1949, wenn er die Friedensverhandlungen in Saint Germain mit dem verschleppten Prozess des Staatsvertrages vergleicht.
Die Tschechoslowakei wurde 1945 ebenfalls als Republik wiedererrichtet. Die Frage der Staatsform stand in der Rhetorik nun aber ganz hinter jener der Nation zurück. Hatte man 1918 noch geschwankt zwischen einem Zentralstaat mit tschechoslowakischem Staatsvolk und einer Kantonisierung nach dem Schweizer Vorbild, in dem alle Sprachgruppen gleichberechtigte Mitglieder einer Staatsnation bilden, so nahm man nun keine Rücksicht auf nationale Minderheiten mehr. Denn die möglichst vollständige Aussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung war als konstitutives Element des wiedererstandenen Staates lange vor Kriegsende unter Einbeziehung der Alliierten geplant worden und mit dem Wegfall der Karpatenukraine war die nationale und sprachliche Vielfalt weiter reduziert, sodass man sich nun ganz auf einen tschechoslowakischen Nationalismus beschränken konnte, der nur im Verhältnis der beiden Sprachgruppen bzw. Ethnien politischer Diskussionsgegenstand war. An dieser nationalen Konzeption änderte sich auch nach dem kommunistischen Putsch im Februar 1948 nichts. Allerdings wurden – infolge der ideologischen und internationalen Einbindung in die sowjetische Machtsphäre – das historische Zustandekommen der Tschechoslowakei und deren republikanisch-demokratischer Charakter komplett umgedeutet. Dabei wurde die Oktoberrevolution als das ‚weit bedeutendere‘ Ereignis in einen an den Haaren herbeigezogenen Zusammenhang mit der Tschechoslowakischen Republik gebracht – als Vorbild und Ermöglichung der Republik. Der 28. Oktober blieb immerhin eine Konstante: kurzfristig verboten, dann geduldet, später wieder gefeiert – und als Feiertag der Republiksgründung mit hinzukommenden kommunistischen Narrativen besetzt, dem Dekret der Verstaatlichung von 1945 (tatsächlich am 19. Mai und 24. Oktober erlassen) und, nach 1968, dem Verfassungsgesetz zur Gründung der tschechoslowakischen Föderation.
„Die nationale Entwicklung wird nun vollzogen auf dem Weg vom Nationalsinn über Nationalgesinnung zum idealen nationalen Selbstbewusstsein.“ Über republikanische Tugenden in einer nationalen Gesinnung – im Reim auf die Erste Republik (Edvard Beneš am 27. Oktober 1947).
„So repräsentierte der 28. Oktober das komplette Gegenteil dessen, wofür das Volk kämpfte und was es wollte.“ (Zdeněk Nejedlý, 1954).
Das Tondokument mit Václav Vilém Štech ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch im Kommunismus keineswegs eine vollständige Kontrolle der Öffentlichkeit bestand. Václav Vilém Štechs Erinnerungen sind nicht systemkritisch, aber auch nicht in besonderer Weise systemkonform. Vielmehr sind sie ein persönliches Zeugnis einer individuellen Erfahrungsperspektive, ein Aufblitzen historischer Kontingenz abseits der kommunistisch standardisierten Narrative und Teleologie.
Text: Georg Traska