Die Staatsgründungen von Österreich und der Tschechoslowakei in den wechselnden Perspektiven der Zwischenkriegszeit

Gelang die Konsolidierung der neuen Staaten, wurden die Gründungsereignisse ins Zentrum des kollektiven politischen Gedächtnisses gestellt. In den Krisen der Zwischenkriegszeit wurden die Staatsgründungen aus parteiischen Gesichtspunkten und in wechselnden historischen Perspektiven umgedeutet – ein letztes Mal anlässlich der NS-deutschen Zerstörung der beiden Staaten.

In der Tschechoslowakei blieb die Erinnerung an die Gründung des Staates bis zu dessen Zerschlagung in den Jahren 1938/39 eine ungebrochen positive. Auch wirtschaftliche und politische Krisen stellten bei der weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung und der politischen Vertreter niemals die Republik selbst in Frage.

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Thomas G. Masaryk zum 10. Jahrestag der Tschechoslowakischen Republik vor Regierung und Nationalrat

Davon wichen im Wesentlichen nur jene Minderheiten ab, die 1918 nicht aus eigenem Willen dem neuen Staat und Territorium zugeschlagen wurden. Neben der ungarischen, polnischen und anderen war die größte unter diesen Minderheiten jene der „Deutschen“ – unter ihnen viele überzeugte Österreicher/innen. Bei ihnen zeigt sich ein differenziertes Bild. Waren deren politische Vertreter aus Protest von den staatsbildenden Versammlungen 1918 bis 1920 ferngeblieben, organisierten sie sich schließlich in politischen Parteien, von denen nach und nach der Großteil seine größte Wirksamkeit in der Zusammenarbeit, also auch in der Regierungsbeteiligung, mit der tschechoslowakischen Zentralregierung entfalten zu können meinte. Diese Haltung wird programmatisch als Aktivismus bezeichnet und reicht von einer bloßen Pragmatik in der Vertretung der eigenen nationalen Interessen im Rahmen dieses Staates bis zu einer vollen und positiven Annahme der Zusammenarbeit im Sinn einer nationalen Aussöhnung – letzteres mit gesteigerter Deutlichkeit gegen die nationalpolitische Vereinnahmung der tschechoslowakischen „Deutschen“ durch das nationalsozialistische Deutschland.

Fotografie vom Wenzelsplatz: Ausrufung der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei am 28. Oktober 1918 ©

Ausrufung der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei

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Gustav Hacker 1937 über das bessere Europa durch Frieden, Verantwortung für den Staat und völkisches Bewusstsein

Gustav Hacker war Vorsitzender des Bundes der Landwirte und sprach 1937 über die Vereinbarkeit von staatlicher Verantwortung – auch in der Regierungsbeteiligung – und völkischem Bewusstsein, während die Friedenssicherung in der Tschechoslowakei vorrangig durch Gerechtigkeit zwischen den Nationen sicherzustellen sei.

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Der Sozialdemokrat Wenzel Jaksch spricht 1937 über "unsere heutige Aufgabe" innerhalb des vielsprachigen Vielvölkerstaates der Tschechoslowakei

Wenzel Jaksch führte einen deutschnationalen Flügel innerhalb der Sudetendeutschen Sozialdemokraten an, betonte das Nationale und setzte sich für mehr Autonomie der „Sudetendeutschen“ ein, suchte aber auch die Zusammenarbeit mit den Tschechen und warnte vor Hitler. „Die Erfahrungen des Weltkrieges sagen eines mit aller Deutlichkeit. Es lohnt sich nicht, den Machtzuwachs des eigenen Volkes durch Bekämpfung und Schwächung seiner Nachbarvölker anzustreben.“ (Wenzel Jaksch, 1937)

<p>Baťa-Zentrale in Zlín</p> ©

Baťa-Zentrale in Zlín

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Jan Antonín Baťa über Wasserwege (1934): wirtschaftliche Infrastrukturen des tschechoslowakischen Staates und der unternehmerische Eigennutz in der Politik

„Es wäre angebracht, das Jubiläum des zwanzigsten Jahrestages der Gründung der Republik zumindest mit einem Ausbauplan für die Wasserstraßen zu feiern.“ Jan Baťa baute in der Zwischenkriegszeit ausgehend von der Schuhproduktion ein riesiges Industrieimperium auf und errichtete zahlreiche Modellsiedlungen. Er wirkte mit kapitalistischen Vorstellungen in Medien und Politik hinein und bewarb 1934 in einer Radioansprache für die nächste runde Republiksfeier den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, angeblich vor allem im Dienste des Volkes und gegen die Arbeitslosigkeit.

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Česká písnička

Das Ringen um die Bundeshymne zieht sich durch die ganze Erste Republik. Nach der wenig erfolgreichen Hymne von Staatskanzler Renner und Wilhelm Kienzl wurden mehrere Hymnen nach dem Vorbild der Melodie der alten Kaiserhymne geschrieben, unter anderem jene des deutschnationalen Priesters und Dichters Ottokar Kernstock (verstorben 1928): Seid gesegnet ohne Ende. Diese Mehrfachbesetzung der Haydn-Melodie führte angeblich dazu, dass am Abend vor dem „Anschluss“ und nach der Abdankung Schuschniggs am 11. März 1938 die Menschen vor der Wiener Staatsoper zur selben Melodie – mit entsprechend unterschiedlichen politischen Gesinnungen – drei verschiedene Hymnen sangen: die „Volkshymne“ der Monarchie, die Kernstock-Hymne und das Deutschlandlied (Hymne der Weimarer Republik und im NS-Staat).

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„Kernstock-Hymne“. „Sei gesegnet ohne Ende...“
Portraitfoto von Hermann Leopoldi
Hermann Leopoldi

Ein gewisser Negativismus und Pessimismus gegenüber dem neuen Staat, dem in mancher Perspektive der Verlust deutlicher eingeschrieben war als er Neubeginn, hielt sich einige Jahre – in der Populärmusik etwa bis zum berühmten Lied Hermann Leopoldis und Fritz Löhner Bedas: "Wien, sterbende Märchenstadt".

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Wien, sterbende Märchenstadt
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Anton Kuh fand in der Gründung der Republik Deutsch-Österreich eine tiefe Quelle des absurden Humors. Die prophetische Neujahrsrede eines Besoffenen aus dem Jahr 1913 publizierte Kuh erstmals am 3. Jänner 1925 im Prager Tagblatt und danach in mehreren Zeitungen.

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Prophetische „Neujahrsrede eines Besoffenen von 1913“ über Kriegsende und Republiksgründung. Eine Neujahrsperspektive Anton Kuhs vom 1. Jänner 1925
Fotografie von Karl Renner, 1925
Karl Renner

1928 hielt Karl Renner anlässlich seiner Bewerbung für das Amt des Bundespräsidenten, der zu diesem Zeitpunkt noch vom Bundesrat gewählt wurde (erst durch eine Verfassungsänderung 1929 sollte er direkt vom Volk gewählt werden), eine Rede, worin er über die Verdienste der von ihm geführten Koalitionsregierung von Sozialdemokraten und Christlichsozialen in den ersten beiden Jahren der Republik sprach und diese Verdienste für sich als Führer dieser Koalition in Anspruch nahm.

Österreich litt nach dem Zerbrechen der sozialdemokratisch-christlichsozialen Koalition im Juni 1920 an einer fortwährenden politischen Polarisierung, die auch die Perspektive auf die Republiksgründung bestimmte. Für die Sozialdemokraten blieb sie ein positiver Bezugspunkt: Hier lagen die großen Erfolge der SDAP als Regierungspartei und als Leiterin einer großen Koalition, die dem ganzen Land und Volk zu dienen verstanden habe. Allerdings wurde diese pragmatische, die Notwendigkeit der Zusammenarbeit betonende Rhetorik Karl Renners vom mächtigen linken Flügel um Otto Bauer konterkariert. Dessen sozialrevolutionäre Programmatik ging mit der Ablehnung der Koalition mit den Christlichsozialen einher und trug zu jener Polarisierung bei, die mit der Ausschaltung des Parlaments durch den christlichsozialen Kanzler Dollfuß endete. Außerdem forderten die Sozialdemokraten eindringlicher als die Christlichsozialen weiterhin den Anschluss an Deutschland und verzichteten darauf erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahr 1933.

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„Rückkehr zum Geiste von 1918“: Karl Renners Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten, 1928 [Ausschnitt]

Die christlichsoziale Partei wollte die Gründung der Republik – auch solange sie diese als demokratische Staatsform anerkannte – nie wirklich feiern. Denn an der Gründung der Republik hatte sie nur aus der Notwendigkeit teilgenommen, den Staat mitzugestalten. Patriotische Gefühle widmete sie nicht dem republikanischen Staat, sondern dem Volk oder dem Land in einer weiteren historischen Perspektive, die die historische Tradition der Monarchie einbezog – sowie in einer betont christlichen, von Klerikern wie Ignaz Seipel personifizierten Politik gegen die „bolschewistische“ und sozialistische „Klassendiktatur“. Im autoritären „Ständestaat“ profilierten christlichsoziale Politiker den Österreich-Patriotismus außerdem gegen die Bedrohung durch NS-Deutschland und die österreichischen Nationalsozialisten, um das eigene autoritäre Regime zu rechtfertigen. 1934 wurde der Staatsfeiertag des 12. November vom autoritären „Ständestaat“ abgeschafft und durch den 1. Mai als Feiertag der neuen ständischen Verfassung ersetzt, womit zugleich der sozialistische „Tag der Arbeit“ besetzt und umgedeutet wurde.

Kurt Schuschnigg rechtfertigt 1934 in seiner Rede vor dem Völkerbund die autoritäre Führung des sogenannten „Ständestaates“ in Absetzung von der „extrem parlamentarischen Demokratie“, die nach dem Zerfall der Monarchie entstanden war. Die Konzeption der Ersten Republik kommt dadurch ins Spiel, dass Schuschnigg die parlamentarische Demokratie in seiner Rede nicht grundsätzlich ablehnt, sondern sich um eine differenzierte Kritik bemüht.

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Ansprache Kurt Schuschniggs vor dem Völkerbund am 12. 9. 1934

Am Staatsfeiertag des Jahres 1932 hielt Theodor Innitzer, seit zwei Monaten Erzbischof von Wien (ab März 1933 Kardinal), eine Radioansprache über Vaterland, politische Eintracht, Nächsten- und Heimatliebe. Von der Republik und ihrer Gründung sprach er mit keinem Wort, sondern vom „deutschen Volk im Reich und in Österreich“.

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Radioansprache von Kardinal Innitzer zum Staatsfeiertag 1932

Alexander Lernet-Holenia schrieb 1934, als der autoritäre „Ständestaat“ die Tradition der Monarchie ins Zentrum des nationalen Gedächtnisses stellte und damit die Republik auch auf dem Terrain des kulturellen Erbes auszulöschen trachtete, seinen Roman „Die Standarte“ über die letzten Tage der Monarchie. So farbenreich er diese Welt in ihrem Untergang darstellt, so unerreichbar ist sie – eine literarische Chimäre voller Vergeblichkeit. Das Buch dient sich nicht dem Regime des autoritären „Ständestaates“ an, obwohl auch dieser kulturell auf das Erbe der Monarchie ausgerichtet war. Immerhin scheint es den aristokratischen Kanzler Schuschnigg sehr berührt zu haben, als er es in der Gestapohaft in Wien las.

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„Die Standarte“ von Alexander Lernet-Holenia. Literarisches Gedächtnis eines Unterganges zu Zeiten eines weiteren Unterganges
Fotografie von Alexander Lernet-Holenia, 1947
Alexander Lernet-Holenia

Seit der Machtübernahme Hitlers im benachbarten Deutschland wuchs der auf Autonomie respektive Separation ausgerichtete Deutschnationalismus unter den Deutsch-Böhmen, -Mährern und -Schlesiern stetig an, gebündelt und befeuert von der Sudetendeutschen Heimatfront – ab April 1935 Sudetendeutsche Partei. Als die SdP Ende 1937 mit der NSDAP gänzlich gleichgeschaltet war, war sie die zweitstärkste Partei der Tschechoslowakei. Die sogenannte „Sudetenkrise“ endete mit dem Münchner Abkommen im September 1938, bei dem die überwiegend deutschsprachigen Grenzgebiete dem Deutschen Reich einverleibt wurden. Die „Zweite Tschechoslowakische Republik“ bestand nur ein halbes Jahr, bis der Rest Böhmens und Mährens als „Protektorat“ von NS-Deutschland annektiert wurde und sich die Slowakei als NS-Satellitenstaat abspaltete. Interessanterweise waren auch in dieser ersten Phase des zerstörten Staates noch vorsichtige Hinweise auf den tschechoslowakischen Staatsfeiertag möglich.

Fotografie von der Demonstration der Sudetendeutschen Partei in Reichenbart/Liberec am 1. Mai 1938
1. Mai 1938 in Reichenberg
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"Wie soll der 28. Oktober gefeiert werden?" Dr. Zavoral, Prior des Strahov-Klosters, über den tschechoslowakischen Republiksfeiertag

„Wie soll der 28. Oktober gefeiert werden?“ fragt Dr. Zavoral, Prior des Strahov-Klosters, in einer Krisensituation des Landes, bedroht vom nationalsozialistischen Deutschland und den inneren Spannungen. Er beschwört die Nation im Bild der Trauer über den Tod des Staatsgründers und Präsidenten Masaryk – und nutzt den Moment, um die römisch-katholische Kirche, die als pro-habsburgisch galt, in den nationalen Schulterschluss einzubeziehen.

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Eine Rede von Antonín Zelenka zum 28. Oktober 1939, dem "Tag der Arbeit", im Protektorat Böhmen und Mähren

Schon ein halbes Jahr vor dem Münchner Abkommen war Österreich als erster Staat durch die deutsche Expansionspolitik von der europäischen Landkarte verschwunden. In ihrer Propaganda delegitimierten die Nazis die staatliche Ordnung Zentraleuropas, die aus den Friedensverträgen des Ersten Weltkrieges hervorgegangen war. In diesem Zusammenhang verfestigte auch die Geschichtsschreibung das Konzept des „Staates wider Willen“ – so der Titel des Buches von Reinhold Lorenz, das dieser 1940 „nach dem festlichen Vollzug des Anschlußes“ verfasste – ein Konzept, das in der Nachkriegszeit unkritisch vom „Staat, den keiner wollte“ (Hellmut Andics 1962) fortgesetzt wurde.

Text: Georg Traska

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Hitlers Rede vom „lebensunfähigen Staat“ Österreich aus Anlass des „Anschlusses“ (18. März 1938)

Aus Anlass des „Anschlusses“ stellte Adolf Hitler den 1918 geschaffenen Staat Österreich als lebensunfähiges Konstrukt dar, das gegen den Willen der Bevölkerung von außen, von den Siegermächten, erzwungen worden war.

Blick aus einem Fenster der Neuen Hofburg auf die Menge am Heldenplatz, 15. März 1938
Heldenplatz, 15. März 1938