1918–1922: Gründungsjahre der Republiken: Öster­reich und Tschechoslowakei

1918 wurden auf dem Gebiet der zerfallenen Donaumonarchie in rascher Folge zahlreiche neue Staaten proklamiert. Zunächst ging es darum, hinsichtlich der Territorien Fakten zu schaffen und den Friedensverhandlungen, wo die Siegermächte Europa neuordneten, vorzugreifen. Die Friedensverträge boten schließlich die Grundlage für neue Verfassungen der Staaten.

Aus beiden Hauptstädten, Wien und Prag, ist einiges an Filmmaterial zu den ersten Tagen der neuen Republiken erhalten. Für Wien sind es überwiegend nicht inszenierte Straßenaufnahmen, in denen politische Handlungen nur teilweise klar erkennbar sind, während die Ausrufung der Republik selbst nicht gefilmt wurde. Die Aufnahmen aus Prag hingegen, die von englischsprachigen Zwischentiteln strukturiert und erklärt werden, zeigen einen Wechsel von bewegten, feiernden Massen und zahlreichen symbolischen Akten eines neuen Staates, dessen Bedeutung von organisierten Menschengruppen inszeniert und von einer Vielfalt tschechoslowakischer, slawischer und internationaler Embleme, Bilder und Trachten orchestriert wird. Dieser Kontrast in den überlieferten Filmaufnahmen hat zwar auch mit den unterschiedlichen Filmgenres zu tun, zeigt aber doch unmissverständlich den konträren Charakter der beiden Staatsgründungen: das feiernde Prag, das in einen menschlich bewegten Bilderbogen verwandelt ist; und ein Wien, das zwar ebenfalls in unüberschaubaren Massen auf die Straßen strömt, für das die Bedeutung dieses Tages aber überwiegend im Ungewissen liegt.

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Am Tag der Ausrufung der Republik Deutsch-Österreich, dem 12. November 1918
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The Czecho-Slovak Revolution – The first days of Independence

Am 12. November 1918 wurde in Wien die Republik Deutsch-Österreich ausgerufen. Die neue Staatsform einer parlamentarischen Demokratie war damit fixiert. Das Territorium und die Bewohner/innen, die der Staat einschließen sollte, waren aber nur vage definiert. Wie alle nach dem Ende des Ersten Weltkrieges neu ausgerufenen Staaten war auch Deutsch-Österreich von der Bestätigung durch die bevorstehenden Friedensverhandlungen abhängig.
Der Proklamation war eine provisorische National­versammlung der deutschen Abgeordneten des letzten Reichrats der Monarchie am 21. Oktober im Nieder­öster­reichischen Landhaus vorangegangen. Die Zusammensetzung der Abgeordneten implizierte bereits den beabsichtigten Staat und wies die Idee eines cisleithanischen Staatenbundes unter Kaiser Karl, den derselbe am 16. Oktober vorgeschlagen hatte, zurück. Am 30. Oktober konstituierte die Nationalver­sammlung den neuen Staat. Um ihn auszurufen, bedurfte es aber noch des Waffenstillstandes und der Erklärung Kaiser Karls, auf den Anteil an den Regierungs­geschäften zu verzichten (auf den Thron wollte er nicht verzichten). Wie schon im Namen Deutsch-Österreich angedeutet, sprach sich ein Großteil der Abgeordneten für einen Anschluss an das Deutsche Reich aus.

<p>Illustrierte Kronen Zeitung, 13. November 1918</p> ©

Illustrierte Kronen Zeitung, 13. November 1918

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Arthur Schnitzlers Tagebucheinträge zum Beginn der Republik, gelesen von Heinrich Schnitzler
Fotografie des Schriftstellers Arthur Schnitzler ©

Arthur Schnitzler

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Anton Kuh über die Gründung der Republik Deutsch-Österreich – im Prager Tagblatt am 2. November 1918 und am 28. Oktober 1928
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Ausrufung der Republik – bei Mànes Sperber (1975)

Satirisches Feuilleton, literarisches Tagebuch und nachträgliche autobiografische Reflexion erfassen vor allem die Unbestimmtheit, Ungewissheit und Ambivalenz in den Tagen, in denen der Krieg und die Monarchie zu Ende gingen und der neue republikanische Staat gegründet wurde. Was die symbolischen Ebenen betrifft, spielen Gesang und Musik eine große Rolle: Anton Kuhs Satire und Manès Sperbers Erinnerungen geben gleichermaßen den soldatischen Straßengesängen Raum.

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„Deutschösterreich, Du herrliches Land“ – Die Renner-Kienzl-Hymne von 1920

Da die Hymne – ebenso wie die Fahne – zur symbolischen Grundausstattung eines Staates gehört, musste die Kaiserhymne nach der Melodie von Joseph Haydn im neuen Staat ersetzt werden. Der Opern- und Liedkomponist Wilhelm Kienzl vertonte 1920 den Text von Staatskanzler Renner – mit mäßigem Erfolg.

Die Tschechoslowakei war als vollkommen neues staatliches Gebilde seit Beginn des Krieges entworfen und im Einvernehmen mit der Entente sowie der USA geplant worden. Die Voraus­setzungen für die Staatsgründung in einer Nachkriegsordnung wurden durch eine von den Alliierten 1918 akzeptierte Exilregierung geschaffen. Die Aufstellung der Tschechoslowakischen Legion und deren Kriegshandlungen auf Seiten der Entente bereitete die aktive Teilnahme an den Friedensver­handlungen vor, von der die Mittelmächte ausge­schlossen waren. (Eine weit größere Zahl an tschechischen und slowakischen Soldaten diente allerdings bis Kriegsende in der k.u.k. Armee.)
Als sich im Herbst 1918 das Ende des Krieges sowie die Auf­lösung der Monarchie abzeichneten und der amerikanische Präsident Woodrow Wilson das „Selbst­bestimmungs­recht der Völker“ als Grundlage seines 14-Punkte-Progamms für eine Nachkriegsordnung propagierte, verfasste der in den USA sich aufhaltende Tomáš Garrigue Masaryk die tschechoslowakische Unabhängigkeitserklärung. Fertiggestellt am 16. Oktober, präsentierte er sie am 17. der US-Regierung und am 18. Oktober wurde sie in Paris publiziert, wo Edvard Beneš den zukünftigen Staat repräsentierte. Am 28. Oktober wurde in Prag die Tschechoslowakische Republik und am 30. Oktober in Turčiansky Svätý Martin die Vereinigung mit der Slowakei ausgerufen.

Der Weg, der zur Gründung der Tschechoslowakischen Republik führte, war zwar zielgerichteter als in Österreich, aber nicht weniger kompliziert. Interessant ist insbesondere auch die Frage, wo eigentlich die Republik gegründet wurde: in Wien, in den USA, oder doch in Genf – und wie koordiniert waren diese Schauplätze mehr oder weniger verborgenen, mehr oder weniger offenen, selbstgewissen Handelns? Zuletzt gewiss, aber erst zuletzt wurde die Republik in Prag gegründet.

<p>Prager Tagblatt, 29. Oktober 1918</p> ©

Prager Tagblatt, 29. Oktober 1918

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Revolution als rhetorische Frage an die „Herren“: František Staňek vor dem Reichsrat am 2. Oktober 1918 in Wien
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„Es war am 26. Oktober 1918“. Auf verschlungenen Wegen zur Tschechoslowakischen Republik

Die tschechoslowakische Republik kannte im Gegensatz zu Österreich keinen Hymnenstreit, dafür aber eine Hymne, über die man eigentlich gar nicht streiten konnte, so so unspezifisch ist sie in politischer Hinsicht.

Die beiden neu gegründeten Staaten ähnelten einander in den demokratischen Grundsätzen moderner parlamentarischer Republiken: mit allgemeinem Wahlrecht (auch Frauenwahlrecht), Grund- und Minderheitenrechten, umfassender Sozialgesetzgebung einschließlich eines modernen Arbeitsrechtes, der Aufhebung des Adels, aber auch in wichtigen staatsrechtlichen Details wie der Verfassungsgerichtsbarkeit, die in den zwei Ländern erstmals neu und umfassend geregelt wurde. Dies alles fand vor dem Hintergrund einer geteilten parlamentarischen Erfahrung seit dem 1861 einberufenen Reichsrat und dem in Cisleithanien gültigen Staatsgrundgesetzt von 1867, das in Teilen von den neuen Republiken übernommen wurde, statt. Überhaupt werden in der jüngeren Historiografie die Kontinuitäten in den Nachfolgestaaten der Monarchie hervorgehoben, die unabhängig davon bestanden, wie sich Bevölkerung, Parteien und andere Organisationen zu Bestand und Auflösung der Monarchie verhielten.
Im Gegensatz zueinander befanden sich Deutsch-Österreich und die Tschechoslowakei hinsichtlich der deutschböhmischen, -mährischen und -schlesischen Gebiete. Mit dem Argument der historischen Zugehörigkeit zu den Ländern der böhmischen Krone wurden sie von der Tschechoslowakei beansprucht, während für die Einbeziehung der Slowakei und der Karpatenukraine kein historisches Recht bestand. Deutsch-Österreich und die Bevölkerung dieser überwiegend deutschsprachigen Gebiete hatten theoretisch das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf ihrer Seite. Doch ging die Verständigung über einen tschechoslowakischen Staat mit den Ländern der Entente weit vor Präsident Wilsons Friedenspläne zurück und die Friedensverträge beschlossen eine Ordnung der Sieger. Da half es der Republik Deutsch-Österreich auch nicht, dass sie sich so unabhängig wie nur irgend möglich von der Regierung der sich auflösenden Monarchie konstituiert hatte. Sie war trotzdem ein „Verliererstaat“. Aufgrund der Friedensverträge wurde Österreich auch der Name „Deutsch-Österreich“ und der Anschluss an das Deutsche Reich verboten. Gegenüber seinen Ansprüchen verlor es Südtirol an Italien, Teile Kärntens und der Steiermark an das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen und die gesamten deutschsprachigen Gebiete auf dem Gebiet der Tschechoslowakei – einschließlich einiger Grenzverschiebungen im historisch niederösterreichischen Gebiet (Gmünd/České Velenice, Feldsberg/Valtice). 1921 kam das Burgenland zum österreichischen Staatsgebiet hinzu.
In Deutsch-Österreich dominierten die Sozialdemokraten die Gründungsphase der Republik, obgleich die erste Regierung aus der Konzentration aller drei Parteien – Sozialdemokraten, Christlichsoziale und Großdeutsche – bestand. Die Sozialdemokraten waren auf die Wende zur parlamentarischen Republik am besten vorbereitet, konnten innerhalb der neuen Staatsform ihr sozialpolitisches Programm umsetzen und als einzige die friedliche Integration der linksrevolutionären Kräfte bewirken. Die Unterzeichnung des Friedensvertrages von St. Germain im September 1919 und der Beschluss des Bundesverfassungsgesetzes waren zentrale Resultate der koalitionären Zusammenarbeit, welche den neuen Staat auf eine solide Grundlage stellten.
Die innenpolitische Situation der Tschechoslowakei war durch eine äußerst vielfältige Parteienlandschaft gekennzeichnet, in der sich die multinationale Zusammensetzung des Landes mit ideologisch-programmatischen Gruppierungen kompliziert überschnitt. Der republikanische Staatspatriotismus konnte dennoch in der ganzen Ersten Republik (bis September 1938) auf eine weit überwiegende Mehrheit zählen und bestimmte das Verhältnis zur Republiksgründung als zentrales Element der kollektiven Identität.

Text: Georg Traska

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Kde domov můj? - Wo ist meine Heimat? Die tschechoslowakische Nationalhymne
<p>Illustrierte Kronen Zeitung, 13. November 1918</p> ©

Illustrierte Kronen Zeitung, 13. November 1918