Michael Loebenstein ist seit 2017 Direktor des Österreichischen Filmmuseums. Davor war er Direktor des National Film and Sound Archive of Australia in Canberra sowie als Kurator und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Österreichischen Filmmuseum und am Wiener Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft tätig.
Aufgewachsen ist der Direktor des Österreichischen Filmmuseums, Michael Loebenstein mit Radio, Schallplatten und Musikkassetten, wobei ihn nicht nur die vermittelten Inhalte fasziniert haben, sondern Töne und Geräusche an sich: das Rauschen auf Aufnahmen, die Möglichkeiten der Produktionstechnik, die Räumlichkeit des Tons und die Intimität, die sich einstellen kann, wenn man Radio hört.
Tonquellen können auch dazu beitragen, Erinnerung vielfältiger zu machen und die Ebene der Emotion einzubringen. Wie wertvoll Tonaufnahmen sein können, wird vor allem dann bewusst, wenn sie fehlen. Michael Loebenstein nennt hier ein anschauliches Beispiel aus Australien, wo er einige Jahre Direktor des National Film and Sound Archive war: Die Sprache zahlreicher indigener Ethnien in Australien ist nicht verschriftlicht und mit der Auslöschung und Vertreibung sind gleichfalls diese Sprachen verschwunden, ein Prozess, der sich auch noch in das 20. Jahrhundert zieht. Hier zu hören, wie jene Menschen gesprochen haben, von denen vielleicht noch Bilder oder Stummfilme existieren, das wäre für Michael Loebenstein interessant, genauso wie umgekehrt: Jene Menschen zu sehen, von denen frühe Sprachaufnahmen gemacht wurden (etwa auf Wachszylinder) und von denen keine Bilder existieren.
Sprache hat ein Element des nicht oder schwer Beschreibbaren, etwa, wenn es um Klangfarben geht. Wie hat z. B. der Großvater geklungen, wie das Wienerisch vergangener Generationen – dieser Aspekt interessiert Michael Loebenstein an Stimmen aus der Vergangenheit.
Als Archivar beschäftigt sich Michael Loebenstein auch mit der Relevanz von Quellentypen in der wissenschaftlichen Forschung und kommt zum Schluss, dass audiovisuelle Quellen unterrepräsentiert sind und der Umgang mit ihnen nicht immer quellengerecht ist: so wie ein Standbild einem Film nicht gerecht wird, so wird dem Ton mit der Verschriftlichung eine wesentliche Facette abgeschnitten.
Bei der Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus haben wir es mit einer Ungleichzeitigkeit der Quellen zu tun: Originalquellen, die überwiegend die Perspektive der Täter/innen widerspiegeln, sowie viele Jahre später entstandene Quellen, die zumeist in Form von Oral-History-Interviews die Opferperspektive zum Inhalt haben.
1938
"Wie klang ein Ereignis, das wir nur als Bild kennen? Die jüngeren Forschungen von Historiker*innen vermitteln uns ein viel dichteres und komplexeres Bild von den Ereignissen des Frühjahrs ’38: weniger als lineare Annexionsgeschichte sondern als ein Mosaik aus Erwartungen, Praktiken, Strategien und Handlungen. Diese Rundfunkaufnahme macht plastisch, wie eine breite Öffentlichkeit medial über das Ereignis Volksabstimmung orientiert und enthusiasmiert wurde. Gemeinsam mit Home Movies aus der Zeit sowie anderen privaten Quellen vermittelt sie einen lebendigen Eindruck davon, wie Medien wie die RAVAG den Erfahrungshorizont dieser Wochen und Monate prägten."
"Diese Aufnahmen eines San-Manns aus 1908 ist in so vieler Hinsicht bemerkenswert. Sie verdeutlicht zum einen die Bedeutung des noch neuen Mediums Film sowie der nicht wesentlich älteren Technik der Tonaufnahme für die Ehnografie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Zum anderen ist es auch – trotz oder gerade weil es ein Dokument kolonialer Praxis ist – auch ein Akt der Selbstermächtigung: Für den Ethnografen Pöch mag Kubi Objekt sein, im Akt der Aufzeichnung wird er jedoch zum Akteur und Subjekt seiner Stimme, seines Bilds und seiner Geschichte.
Nicht zuletzt ist das hier verlinkte Dokument ein schönes Beispiel von Kooperation im audiovisuellen Archivwesen: Aufnahmen zweier Institutionen werden Jahrzehnte nach ihrer Entstehung zusammengeführt."
Die an der Österreichischen Mediathek archivierten Filme aus der Sammlung des Österreichischen Bundesinstituts für den wissenschaftlichen Film (ÖWF) decken sowohl ein breites zeitliches (von 1904 bis 1997) als auch thematisches Spektrum mit den Schwerpunkten europäische und außereuropäische Ethnologie sowie Medizin und Biologie ab.
Wie fragil audiovisuelle Medien sind, ist auch außerhalb der Archivwelt nachvollziehbar. Selbst gebrannte CDs, die nicht mehr spielen, Videomitschnitte auf VHS-Kassetten, für die kein Videorekorder mehr verfügbar ist. Ohne eine konsequente Digitalisierungsstrategie gehen wertvolle Inhalte verloren – und das gilt umsomehr für private Sammlungen. Das Projekt Wiener Video Rekorder hat durch öffentliche Aufrufe und gezielte Sammeltätigkeit einen Bestand geschaffen, der digitalisiert und im Langzeitarchivierungssystem der Österreichischen Mediathek gesichert wurde, wodurch der Zugriff auf diese wichtigen Quellen langfristig gewährleistet ist.
Home- und Amateurvideos von Wienerinnen und Wienern zeigen den Alltag in den 1980er und 1990er Jahren: Öffentliches und Privates, Kinder und Haustiere, Hochzeiten und Reisen, Geburtstagsfeiern und Demonstrationen.
www.wienervideorekorder.at
"Home Videos sind eine unschätzbare Quelle nicht nur, um Alltagserfahrungen und private Selbstbilder zu rekonstruieren. Als "Gegenmedium" war Video auch ab den 1970er Jahren ein Werkzeug, um die Erfahrungen und Anliegen von Subkulturen, politischen Bewegungen und alternativen lebens- und Gesellschaftsentwürfen zu artikulieren. Gerade in einem damals noch vom Rundfunkmonopol und einer konzentrierten Zeitungskultur geprägten Republik stellen solche Videos eine Art Gegengedächtnis dar. Biografisch erinnere ich mich z. B. an die "GAGA" nur durch die feindselige Berichterstattung der Medien: Das Video eröffnet mir plastisch ein andere Perspektive."
"Etwas, was ich als Sammlungskurator immer gerne mache, ist ganze Bestände anzusehen. Film- und Medienwissenschaft und die Arbeit mit Sammlungen hat für mich als Museumsmensch ganz viel mit Archäologie zu tun: es ist die Ausgrabungsstätte und die Logik des Neben- und Miteinanders scheinbar kontingenter Objekte, die mich interessiert.
Hier also ein Stück Video von Herrn P.G., ein Videoamateur: eine Vermessung im Herumspazieren des Wiener Stephansplatz’, das Augenmerk gilt manchmal Details, oft nur der Dynamik des Fußgängerverkehrs. Ein klassischer Flaneur, in diesem Fall mit dem damals noch exklusiveren Medium Video. Die Aufnahme fügt sich gut ein in die anderen überlieferten Zeugnisse dieses anonymen Wieners, darunter seine ungewöhnlichen und sehr interessanten Miniaturen aus dem Arbeitsalltag in einer Motorwerkstatt oder im ORF-Schnittstudio."
"Für mich war Wolfgang Kos als Radiojournalist ungemein wichtig: Sein "Popmuseum" war ein Fixstern am Firmament meiner musikalischen Erziehung. Hier wird der Kurator Kos selbst zum historischen Objekt; und das lange Interview hält viel mehr fest als nur sein Wissen und seine Ansichten zur Wiener Popkultur. Ein Beispiel – stellvertretend für ganz viele andere –, warum die Oral History ein wunderbares Instrument zur Geschichtsschreibung ist: Sie etabliert nicht nur Fakten, sondern hält das Timbre, die Artikulation ihres Gegenübers fest. Im Falle von Wolfgang Kos ist das seine Art, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen, die Verfassung seiner Gedanken beim Reden, die Freude an der Entdeckung eines Fadens, dem er dann mit Eifer und Verve folgt. Der lebendige Mensch."