Anhand verschiedener „Affären“, die jeweils heftige Debatten auslösten, wird die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der österreichischen Politik bis zur Gegenwart veranschaulicht, wobei auch die Reaktion der Bevölkerung thematisiert wird.
Ebenso wird gezeigt, welche Bedeutung Reden österreichischer Politikerinnen und Politiker als auch die künstlerische Auseinandersetzung wie beispielsweise Mahnmale im Prozess der NS-Vergangenheitsbewältigung spielten bzw. spielen.
Im Mittelpunkt dieses Themenpakets steht einerseits die selbstständige Recherche und die anschauliche Präsentation des historischen Hintergrunds, andererseits die kreative Auseinandersetzung mit den Informationen zum Thema NS-Vergangenheitsbewältigung. Die Arbeitsblätter beinhalten auch konkrete Vorschläge zur Textproduktion, zur Umsetzung exemplarischer Szenen nach dem Vorbild des „Theater der Unterdrückten“ sowie zur Präsentation der Hintergrundgeschichte von Holocaustmahnmalen. Für eine abschließende reflexive Phase wird die Analyse einer konkreten Rede vorgeschlagen.
Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. 55 Millionen Tote, darunter sechs Millionen, die in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet worden waren; mehr als 10 Millionen aus ihrer Heimat Vertriebene; Millionen von Kriegsgefangenen und massive Zerstörungen in ganz Europa.
Wenn der Krieg und die nationalsozialistische Herrschaft auch alle betroffen hatte, so waren die Folgen für jede Einzelne und jeden Einzelnen sehr unterschiedlich, je nachdem zu welcher Gruppe man gehört hatte: zu derjenigen der Täter/innen, der Opfer, der Emigrantinnen und Emigranten oder derjenigen der Widerstandskämpfer/innen. Dabei war die Frage, zu welcher Gruppe man gehörte, gerade nach Ende des Kriegs oft umstritten, da man auch das eine und das andere sein konnte, die Zuordnung aber für die Zukunft äußerst entscheidend war. Denn die Zukunft war – so wie die Zukunft Österreichs – zwar für alle ungewiss, je nachdem aber, wie man selbst oder/und seine Familienmitglieder während des nationalsozialistischen Regimes gehandelt hatte(n) oder behandelt worden war(en), waren die Ängste und Hoffnungen jeweils andere.
Mit dem NSDAP-Verbotsgesetz im Mai 1945, dem Kriegsverbrechergesetz im Juni 1945 und dem Nationalsozialistengesetz 1948 (Amnestie der als „minderbelastet“ qualifizierten Nationalsozialist/innen) legte man die juristischen Grundlagen einer gerichtlichen Verfolgung von NS-Täter/innen.
Nach Kriegsende liefen die Entnazifizierungsverfahren der Besatzungsmächte (hier besonders in der amerikanischen Zone) und der österreichischen Regierung nebeneinander. In dieser ersten Phase der Entnazifizierung, in der über eine halbe Million Österreicher/innen als registrierte Nationalsozialist/innen erfasst wurden, über 170.000 – zumindest kurzfristig – aus ihren Funktionen (vor allem im Öffentlichen Dienst) entlassen wurden, über 130.000 Fälle (43 Todesurteile) gerichtlich verfolgt und verhandelt wurden, kam es zum Versuch, die Spuren der NS-Vergangenheit zu tilgen.
Die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit trat aber rasch hinter die materiellen Sorgen der Nachkriegszeit zurück. Nicht übersehen werden darf bei der rückblickenden Beurteilung aber auch, was für ein sensibles und emotionsgeladenes Thema die Entnazifizierung in den Nachkriegsjahren war – schon allein aus der Tatsache, dass auch nach 1945 noch Elemente nationalsozialistischen Denkens vorhanden waren und man besonders hier vor der Aufgabe stand, nicht unerhebliche Teile der Bevölkerung nachhaltig in ein demokratisches System zu integrieren.
Zusammenschnitt aus dem Nürnberger Prozess
Bundespräsidentschaftswahlkampf.
Strich unter die Vergangenheit
1947 wurde das Opferfürsorgegesetz erlassen, das eine geringe soziale Unterstützung und Privilegien bei Ämtern und Behörden vorsah. Das Gesetz teilte die Opfer in folgende zwei Kategorien: ehemalige (partei‑)politisch aktive Widerstandskämpfer/innen und Opfer von Verfolgung aus rassistischen, religiösen, nationalen oder politischen Gründen. Die aufgrund einer Behinderung verfolgten NS-Opfer kamen erst 1995 hinzu und 2005 alle anderen vom NS-Regime verfolgten Gruppen wie Homosexuelle, Opfer der NS-Gesundheitspolitik und jene der Militärjustiz. Sozial benachteiligte Opfergruppen wie besonders die Roma und Sinti hatten große Schwierigkeiten, ihre Ansprüche durchzusetzen. Erst 1988 wurde in einer Novelle des Opferfürsorgegesetzes verankert, dass auch die ehemaligen Häftlinge der sogenannten Zigeunerlager sowie die ausgesiedelt gewesenen Sloweninnen und Slowenen Anspruch auf Rentenfürsorge haben. Widerstand aus Menschlichkeit – wie z. B. die Hilfe für Kriegsgefangene oder das Verbergen bedrohter Personen – wurde von den Behörden nicht als aktiver Einsatz gegen das NS-Regime gewertet. Militärische Delikte wurden nur dann als Widerstand akzeptiert, wenn die Betroffenen parteipolitische Bindungen oder Motive nachweisen konnten.
Außerdem waren die meisten der Leistungen des Opferfürsorgegesetzes an eine aufrechte österreichische Staatsbürgerschaft gebunden. Emigrantinnen und Emigranten, die bereits die Staatsbürgerschaft des Landes, in das sie geflüchtet waren, angenommen hatten, erhielten nur Einmalzahlungen und konnten, wenn überhaupt, nur wenige der Entschädigungsleistungen aus dem Opferfürsorgegesetz beanspruchen. Erst 2001 wurde diese Benachteiligung der 1938 und danach Vertriebenen und Geflüchteten durch eine Novelle beseitigt. Emigrantinnen und Emigranten wurden auch von offizieller Seite nie eingeladen, nach Österreich zurückzukehren. (vgl. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands)
Die Widerstandskämpferinnen und ‑kämpfer erhielten weder Anerkennung für ihre gefährlichen Aktionen gegen das NS-Regime, noch ließ man sie in der Politik eine Rolle spielen.
über sein Zusammentreffen mit dem berüchtigten Arzt Heinrich Gross 1975
Lange wurde die nationalsozialistische Vergangenheit des Landes in der österreichischen Gesellschaft verdrängt, vergessen und tabuisiert. Schon 1945 präsentierte sich Österreich als Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands. Gestützt wurde diese Interpretation des „Anschlusses“ durch die am 1. November 1943 veröffentlichte „Moskauer Deklaration“, in der die Alliierten das Ziel eines freien und unabhängigen Österreichs erklärten. Österreich wurde in diesem Dokument tatsächlich als „erstes Opfer der typischen Angriffspolitik Hitlers“ bezeichnet, gleichzeitig wurde jedoch festgehalten, dass Österreich „für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann, und dass anlässlich der endgültigen Abrechnung Bedachtnahme darauf, wie viel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird, unvermeidlich sein wird.“ Die Moskauer Deklaration war eine der Grundlagen der Verhandlungen, die zum Staatsvertrag im Mai 1955 und damit zur Wiederherstellung des souveränen Staates Österreich führten. Der „Opfermythos“ als Gründungsmythos der Zweiten Republik wurde beibehalten.
Doch nach einer Reihe von Skandalen, die in der Waldheim-Affäre 1986 ihren Höhepunkt fanden, konnte das Tabu der österreichischen Beteiligung am nationalsozialistischen Regime nicht mehr gehalten werden, und die Gesellschaft begann, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Wie schwer man sich in Österreich mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit tat und wie widersprüchlich mit dieser Vergangenheit umgegangen wurde, zeigen die folgenden „Affären“.
Bruno Kreisky, selbst in einer assimilierten jüdischen Wiener Familie aufgewachsen und schon vor dem Krieg politisch als Sozialdemokrat engagiert, musste 1938 emigrieren und war seit seiner Rückkehr nach Österreich 1951 in der Politik tätig. 1970 wird er Bundeskanzler einer SPÖ-Minderheitsregierung unter Duldung der FPÖ. Simon Wiesenthal, Leiter des Dokumentationszentrums (des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes) und als solcher durch die Ausforschung des Aufenthaltes nationalsozialistischer Kriegsverbrecher/innen international anerkannt, kritisierte die Nominierung mehrerer Minister des Kabinetts Kreiskys, weil sie NS-Organisationen angehört hatten.
Vor der Wahl 1975 stellte sich Kreisky darauf ein, dass die SPÖ die absolute Mehrheit, die sie bei den Wahlen 1971 erlangt hatte, nicht mehr erreichen und somit eine Koalition mit der FPÖ unter deren Bundesparteiobmann Friedrich Peter notwendig sein würde. Wiesenthal erfuhr, dass Friedrich Peter einer Einheit der SS angehört hatte, die für Massenmorde an der Zivilbevölkerung verantwortlich gewesen war. Erst nach der Wahl, bei der die SPÖ die absolute Mehrheit behielt, machte Wiesenthal den Vorwurf öffentlich. Peter wies zurück, an Mordaktionen beteiligt gewesen zu sein. Bundeskanzler Bruno Kreisky stellte sich hinter Peter, unterstellte Wiesenthal „Mafiamethoden“ und warf ihm vor, selbst mit dem NS-Regime kollaboriert zu haben. Wiesenthal klagte den Bundeskanzler, der daraufhin seine Anschuldigungen zurücknehmen musste.
Auch in der österreichischen Bevölkerung, von der die meisten gerne einen Schlussstrich unter die NS-Zeit gesetzt hätten, löste der Streit hitzige, teils antisemitisch gefärbte Diskussionen aus.
1978 kandidierte Friedrich Peter nicht mehr als Bundesparteiobmann der FPÖ, zog aber weiterhin die Fäden in seiner Partei. Mit seinem Fürsprecher Bruno Kreisky handelte er 1983 die Kleine Koalition unter Bundeskanzler Fred Sinowatz (SPÖ) und Vizekanzler Norbert Steger (FPÖ) aus, nachdem die SPÖ die absolute Mehrheit verloren hatte. Unter der rot-blauen Regierung sollte Peter 1983 dritter Nationalratspräsident werden, zog jedoch nach heftigen Protesten aufgrund seiner SS-Vergangenheit seine Kandidatur zurück. Er blieb bis zu seinem Ausscheiden aus dem Nationalrat 1986 Klubobmann der FPÖ und starb 2005 in Wien. (vgl. Artikel im Standard vom 28. September 2005)
Walter Reder war als SS-Sturmbannführer unter anderem für ein Massaker im italienischen Marzobotto verantwortlich, bei dem 1800 Bewohner/innen ums Leben kamen. 1951 wurde Reder in Italien zu lebenslanger Haft verurteilt. Österreich sah sich als „Schutzmacht“ für den Kriegsverbrecher, obwohl er bereits 1934 die österreichische zugunsten der deutschen Staatsbürgerschaft aufgegeben hatte. 1956 wurde Reder wieder die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen und Anfang der 1960er Jahre stellte das Außenministerium fest, dass Reder als Kriegsgefangener im Sinn der Genfer Kriegsgefangenenkonvention zu behandeln sei. Für seine Freilassung setzten sich im Laufe der Jahrzehnte viele österreichische Spitzenpolitiker/innen, aber auch Persönlichkeiten wie Kardinal König ein.
1984 schrieb Reder an die Bürger/innen von Marzabotto einen Brief, in dem er seine tiefe Reue ausdrückte. Nachdem er im Jänner 1985 aus dem Gefängnis entlassen und nach Österreich überstellt worden war, widerrief er seine Reuebekundungen.
Bei seiner Ankunft am Grazer Flughafen wurde er vom damaligen Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager (FPÖ) begrüßt. Dieser Handschlag löste eine Protestwelle im In- und Ausland aus. Scharf kritisiert wurde auch, dass dem verurteilten Kriegsverbrecher nach seiner Rückkehr vom ÖVP-Politiker Wilhelm Gorton Unterkunft gewährt wurde. In Österreich bewirkte der Fall Walter Reder eine breite Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit – manche meinen, zum ersten Mal.
Ausschnitt aus der ORF-Pressestunde vom 27. Jänner 1985
Kurt Waldheim zählte zu den bedeutendsten, gleichzeitig aber auch zu den umstrittensten Politikern Österreichs. Seine politische Karriere begann er 1947 als Sekretär des damaligen Außenministers Karl Gruber. Danach war er lange als Diplomat tätig. Von 1968 bis 1970 war Waldheim Außenminister. 1971 wurde er zum Generalsekretär der Vereinten Nationen gewählt und übte dieses Amt bis 1981 aus. Von 1986 bis 1992 war Waldheim österreichischer Bundespräsident.
Während des Wahlkampfs zur Bundespräsidentenwahl 1986 lösten im österreichischen Nachrichtenmagazin „profil“ publizierte Informationen zur NS-Vergangenheit des von der ÖVP aufgestellten Kandidaten Waldheim sowie die Veröffentlichung dessen Wehrmachtskarte heftige politische Auseinandersetzungen aus. Aber auch international wurde Waldheims NS-Vergangenheit zum Thema. Der ehemalige Angehörige des SA-Reiterkorps und des NS-Studentenbundes hatte in seiner offiziellen Biografie verschwiegen, dass er bereits im März 1942 nach Saloniki zur Heeresgruppe E der Deutschen Wehrmacht versetzt worden war, einer Einheit, die an der Deportation der jüdischen Bevölkerung beteiligt gewesen war.
Mit Aussagen wie „Ich habe im Krieg nichts anderes getan als hunderttausende Österreicher auch, nämlich meine Pflicht als Soldat erfüllt“, zeigte er einen unsensiblen und oberflächlichen Umgang mit seiner Vergangenheit, sprach aber, wie nicht nur sein Wahlsieg vermuten lässt, damit tausenden ehemaligen Wehrmachtssoldaten aus der Seele.
Im Zuge der Auseinandersetzung um Waldheim wurden antisemitische Ressentiments bedient, auch von Waldheim selbst, wie die folgende in der französischen Tageszeitung „Le Monde“ veröffentlichte Bemerkung Waldheims zeigt: „[Die internationale Presse] ist von dem jüdischen Weltkongress dominiert. Das ist wohl bekannt.“ (Le Monde, 3. Mai 1986, zitiert nach Ruth Wodak u. a.)
1987 wurde Waldheim vom US-amerikanischen Justizministerium auf die „Watchlist“ gesetzt. Das bedeutete, dass er als Privatperson bis zur Entkräftung der Vorwürfe gegen ihn nicht mehr in die Vereinigten Staaten einreisen durfte.
Beitrag aus dem Abendjournal vom 27. April 1987 der mit einer Einspielung der Headline von CNN beginnt.
Beitrag im Mittagsjournal vom 9. Juni 1986
Auf Kurt Waldheims Wunsch setzte die österreichische Bundesregierung eine internationale Historikerkommission zur Überprüfung der Anschuldigungen ein. Diese konnte zwar keine Beteiligung oder Mittäterschaft nachweisen, stellte aber fest, dass Waldheim – entgegen seiner Aussagen – von den Kriegsverbrechen am Balkan gewusst haben musste. Daraufhin forderte Simon Wiesenthal, der Leiter des Jüdischen Dokumentationszentrums, Waldheims Rücktritt. Waldheim blieb im Amt, doch seine „Gedächtnislücken“ ließen die Kritik nie verstummen und die internationale Isolation hielt weiter an. Die Bezeichnung „Lügenpräsident“ des Schriftstellers Thomas Bernhard wurde in der ausländischen Presse zu einem geläufigen Ausdruck. Zurück blieb das Bild eines Landes, das sich mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit nicht auseinandergesetzt hatte. Der umstrittene Bundespräsident polarisierte die Gesellschaft und löste eine öffentliche Diskussion über den „Opfermythos“ aus.
Bericht im Mittagsjournal vom 5. Februar 1988 kurz vor der Veröffentlichung des Berichts der Historikerkommission
Das Gedenkjahr 1988 (50 Jahre „Anschluß“) war geprägt von zahlreichen Diskussionsveranstaltungen und Publikationen zum Thema Vergangenheitsbewältigung und Opfermythos. Der längst fällige Prozess der Aufarbeitung hatte eingesetzt und führte nach wie vor zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen. Als Beispiele seien die Diskussionen um die Aufführung des Theaterstücks „Heldenplatz“ von Thomas Bernhard am Wiener Burgtheater oder um die Errichtung des „Mahnmals gegen Krieg und Faschismus“ auf dem Platz vor der Albertina durch den österreichischen Bildhauer Alfred Hrdlicka genannt.
Bericht in der Wochenschau vom 10. Oktober 1988
Bericht im Mittagsjournal vom 11. Oktober 1988
Bericht im Mittagsjournal vom 26. Juli 1988
International blieb Österreich weiterhin isoliert. Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) übernahm Repräsentationsaufgaben, die unter anderen Umständen der Bundespräsident wahrgenommen hätte. Dabei ging Vranitzky auf Distanz zu Waldheim und drohte sogar mit seinem Rücktritt. Kritiker/innen warfen Vranitzky allerdings vor, dass er die Situation des Bundespräsidenten ausnütze, um von den parteiinternen Problemen der SPÖ abzulenken. Vranitzky gelang es, die Beziehungen zu den USA und zu Israel, dessen Botschafter nach der Wahl Waldheims abgezogen worden war, zu normalisieren. Innenpolitisch ging er auf Distanz zu Jörg Haider (FPÖ) und dessen Politik.
Beitrag im Mittagsjournal vom 15. Februar 1988
Im langen Prozess der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs ist die Rede Vranitzkys vor dem Nationalrat am 8. Juli 1991 bemerkenswert. Vranitzky nahm die Aussage des Kärntner Landeshauptmanns und FPÖ-Vorsitzenden Jörg Haider, dass es im Dritten Reich eine „ordentliche Beschäftigungspolitik“ gegeben habe, zum Anlass, um sich kritisch mit der Rolle Österreichs in der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Der Bundeskanzler relativierte nicht nur die bis dahin auch von offizieller Seite hochgehaltene These von Österreich als erstem Opfer des nationalsozialistischen Regimes, sondern bekannte auch die Mitschuld der Österreicher/innen am Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen ein.
Zwei Jahre später hielt Vranitzky im Rahmen seiner Israelreise eine Rede an der Universität in Jerusalem, in der er die Opfer des Nationalsozialismus im Namen der Republik um Verzeihung bat. Mit seinen Worten gab er zu verstehen, dass sich Österreich von den politischen Mythen der Nachkriegszeit verabschiedete, und signalisierte die Orientierung an einem europäischen Geschichtsbewusstsein. Das Bekenntnis des offiziellen Österreichs zur Mitverantwortung am Holocaust demonstriert so auch den politischen Willen, gegen Rechtsextremismus und Rassismus vorzugehen. (http://www.demokratiezentrum.org/wissen/wissensstationen/opfermythos.html)
1994 besuchte Bundespräsident Thomas Klestil als erster österreichischer Präsident Israel und hielt eine Rede vor der Knesset, dem israelischen Parlament, in der er sich zum „schweren Erbe der Geschichte“ bekannte.
Ausschnitt aus dem Abendjournal vom 9. Juni 1993
Bericht im Mittagsjournal vom 16. November 1994
Ein weiterer Meilenstein auf dem Weg der österreichischen Vergangenheitsbewältigung war 1998 die Einsetzung einer Historikerkommission, die den Themenkomplex „Raub von jüdischem Eigentum durch das NS-Regime und die Versuche der Wiedergutmachung“ aufarbeitete. 2003 präsentierte sie ihren Endbericht und zeigte erneut auf, dass sich Österreich hinter der Opferthese versteckte und bei der Entschädigung an Opfer des NS-Regimes „oft nur halbherzig und teilweise recht zögerlich“ agierte.
Im selben Jahr wurde die „Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz“ gegründet, die staatsanwaltschaftliche Untersuchungen und Gerichtsverfahren aufgrund von NS-Verbrechen dokumentiert. Auf Betreiben Simon Wiesenthals wurde 2000 das „Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah“ am Wiener Judenplatz, gestaltet von Rachel Whiteread, enthüllt.
Bericht im Mittagsjournal vom 2. Dezember 1996
Dass die Vergangenheitsbewältigung nach wie vor nicht abgeschlossen ist, zeigten die Auseinandersetzungen anlässlich der ab 1995 gezeigten sogenannten Wehrmachtsausstellung („Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“), die bei der zweiten, stark überarbeiteten und ab 2002 gezeigten Neufassung teilweise sogar gewalttätig waren. In der Ausstellung wurde das Bild der „sauberen Wehrmacht“ als vom NS-Staat getrennter, unpolitischer Einrichtung widerlegt. Die Gegner/innen sprachen von einer „Pauschalverurteilung aller Wehrmachtangehörigen“.
Bericht im Mittagsjournal vom 5. September 1996
Ebenfalls für heftige Debatten sorgte ein Interview mit Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP), das am 9. November 2000, dem Gedenktag der Reichsprogromnacht 1938, in der israelischen Tageszeitung „Jerusalem Post“ erschienen war. Darin ließ er die Opferthese wiederaufleben und bekannte sich erst auf Nachfrage zur moralischen Verantwortung Österreichs für seine NS-Vergangenheit.
Kritisch wurde auch das „Jubiläumsjahr 2005“ gesehen. Während in Europa die Befreiung von der NS-Herrschaft und das Jahr 1945 im Zentrum standen, feierte man in Österreich die „Erfolgsstory“ der Zweiten Republik.
Im Gedenkjahr 2008, das im Zeichen der Erinnerung an eine Vielzahl historischer Ereignisse stand – darunter die Ausrufung der Republik 1918, die Ausschaltung des Parlaments 1933, der „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland 1938 –, erwähnte mit Ausnahme von Otto Habsburg bei einer Gedenkveranstaltung der ÖVP im offiziellen Rahmen die „Opferthese“ niemand mehr.
Der Prozess der Vergangenheitsbewältigung hält bis heute an. Erst 2013 präsentierte eine Kommission aus drei Historikern und einer Historikerin ihre Untersuchungsergebnisse über die Vergangenheit von Personen, nach denen Plätze oder Straßen in Wien benannt sind.
Recherche zum historischen Hintergrund – Arbeitsblatt 1
bietet Anregungen für die Recherche zum historischen Hintergrund. Die Schüler/innen sollen zu vorgegebenen Themen auf den Seiten der Mediathek recherchieren und die Ergebnisse in der Form eines (Markt‑)Standes präsentieren. Die selbst zu erstellende Timeline zur Vergangenheitsbewältigung hilft jeder Schülerin und jedem Schüler, sich einen Überblick zu verschaffen.
Schreibwerkstatt – Arbeitsblatt 2
bietet Ideen zur Textproduktion, in der die Schüler/innen das erworbene Wissen kreativ umsetzen. Das Angebot reicht von alternativen Biografien der damaligen Akteure über alternative Geschichtsschreibung bis zu fiktiven Telefonaten.
„Theater der Unterdrückten“ – Arbeitsblatt 3
beschreibt eine Methode des „Theater der Unterdrückten“, das der Theaterpraktiker und ‑theoretiker Augusto Boal entwickelte, und zeigt Möglichkeiten der Umsetzung.
Mahnmale – Arbeitsblatt 4
bietet Vorschläge, um sich mit Holocaustdenkmälern auseinanderzusetzen. Die Schüler/innen erarbeiten die Hintergrundgeschichte zweier exemplarisch ausgewählter Mahnmale in Wien und präsentieren sie als Reiseführer/innen der Klasse.
Redeanalyse – Arbeitsblatt 5
enthält einen kurzen Auszug aus der 1991 im Nationalrat gehaltenen Rede des österreichischen Bundeskanzlers Franz Vranitzky. Die Analyse der Rede bietet sich als Abschluss des Themenpakets an, wobei vor allem die Bedeutung der Rede im Kontext der Vergangenheitsbewältigung in Österreich thematisiert werden soll.
(Text und Inhalt: Julia Müller, 2014)