Ein Leitfaden für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Lebensgeschichten
Die Frage an die Großeltern, „wie es denn so früher war“, stellt wohl jedes Kind einmal. Seit dem Ende der 1960er Jahre hat in Europa auch die Wissenschaft diese doch recht persönliche Fragestellung für sich entdeckt und versucht, eine wissenschaftliche Methode zu entwickeln – die Oral History.
Ziel der Oral History ist es, Erzählungen von gegenwärtig lebenden Menschen für die Nachwelt zu erhalten. Die Methode basiert auf dem freien Sprechenlassen von Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, die dabei möglichst wenig vom Forschenden selbst abgelenkt werden sollten. Zentrale Technik zur Erhebung ist das narrative, autobiografische Interview, das vor allem die subjektive Erlebenswelt der Befragten zum Vorschein bringen soll.
Mit diesem Beitrag sollen SchülerInnen einerseits theoretische Überlegungen zum Umgang mit Interviews und Lebensgeschichten kennenlernen und andererseits anhand konkreter Beispiele wissenschaftliche Fragestellungen erproben. Im Mittelpunkt dieses Themenpaketes steht ein Leitfaden für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Lebensgeschichten, welcher mit Hilfe von Arbeitsaufträgen schrittweise durchgeführt wird. Die Probleme und Bedenken der Oral History werden reflektiert, die Methodenkompetenz im Umgang mit Zeitzeug/innen geschult und kritische Fragen an Lebensgeschichten und Interviews als zeitgeschichtliche Quellen gestellt. Die Arbeitsblätter beinhalten konkrete Vorschläge zur Planung, Durchführung und Analyse von Interviews und Oral-History-Projekten.
Recherchieren Sie im Internet, was unter „subalternen“ Gruppen verstanden wird und beschreiben Sie, warum diese sprachlos sind – beziehungsweise ihre Sprache und ihre Versuche, ihre Bedürfnisse zu artikulieren, ungehört und unverstanden bleiben! Welche Stimmen sind heute in der Öffentlichkeit kaum zu hören und finden selten einen Platz in der Geschichtsschreibung?
Herunterladen (PDF)Der Oral History geht es um das Auffinden und Dokumentieren bisher unbekannter Erzählungen und um den Versuch, aus der mündlichen Geschichte und den Erinnerungen Quellen zu machen. Vor allem den nichtprivilegierten Personen der Gesellschaft, deren Leben in historischen Beschreibungen hauptsächlich durch die Augen anderer Personen gesehen wird, soll eine Stimme gegeben werden. Alle Menschen sind in gewisser Weise Beteiligte und Betroffene von historischen Prozessen und können somit zum Untersuchungsgegenstand der Oral History werden.
1. Hören Sie sich die beiden lebensgeschichtlichen Interviews an! Wie wird in den beiden Interviewpassagen jeweils der Kontakt mit der russischen Besatzungsmacht dargestellt?
2. Welche Unterschiede sind erkennbar und welche Gründe könnten diese haben?
Bereits seit ihrer Entstehung löst die Oral History jedoch viele Kontroversen aus. Ihre Gegner werfen mündlichen Quellen unter anderem Subjektivität sowie Mangel an Glaubwürdigkeit und Repräsentativität vor. Denn stets besteht die Gefahr, dass wir Zeitzeugenaussagen allzu schnell als durch Lebenserfahrung bezeugte historische Wahrheiten annehmen. Oft können wir den Wahrheitsgehalt einer vergangenen Geschichte nicht mehr überprüfen und es ist fraglich, ob das Gedächtnis eines Einzelnen eine glaubhafte Quelle für Informationen über historische Fakten sein kann. Lebenserinnerungen sind immer durch die Wahrnehmung und Deutung der Wirklichkeit der sprechenden Person geprägt und von zahlreichen Faktoren beeinflusst. Jedes Individuum nimmt eine Situation anders war und die Sicht auf ein Ereignis ist davon bestimmt, ob man zum Beispiel arm oder reich, männlich oder weiblich oder jung oder alt ist.
Beantworten Sie folgende Fragen zum Zeitzeugengespräch mit Margarethe Baranyai:
Dennoch sind diese persönlichen Schilderungen oft direkt oder indirekt mit den „großen“ Entwicklungen Österreichs und der Welt verwoben. Aus der Perspektive und mit den Worten jener, die all dies erlebt haben, bilden dieser Erzählungen auf einzigartiger Weise Erlebnis-, Erfahrungs- und Erinnerungswelten des 20. und 21. Jahrhunderts ab. Die Atmosphäre und Stimmung bestimmter Ereignisse wird erkennbar und die emotionale Betroffenheit der Menschen aufbewahrt.
Mri Historija: Die Worte „dreckiger Zigeuner“ haben mich immer fast umgebracht.
Die Erzählung eines Zeitzeugen im Jahre später geführten Interview ist immer eine Darstellung über dessen Erfahrungen. Es handelt sich nie um eine „originale“ vergangene Erfahrung, denn was erzählt wird, ist immer davon geprägt, wie die Person ihre Erfahrungen in bestimmte Zusammenhänge einordnet, deutet und interpretiert. Meist kann man sich nur dann an etwas erinnern, wenn man dem Erlebten eine Bedeutung zumisst. Uns begegnet also „Geschichte“ und nicht „Vergangenheit“.
Was ist der Unterschied zwischen „Geschichte“ und „Vergangenheit“? Was sind historische Quellen? Welche Beispiele kennen Sie?
Herunterladen (PDF)Die Geschichten, an die sich eine Person erinnert, haben nie „nur“ mit dem vergangenen Ereignis oder der damaligen Situation zu tun, sondern immer auch mit den darauffolgenden Erfahrungen und der aktuellen Bewertung.
Außerdem müssen auch immer die Absichten, die sie bewogen haben, sich für ein Interview zur Verfügung zu stellen, und die Intentionen der Zeitzeugen mitgedacht werden. Jeder Zeitzeuge und jede Zeitzeugin verfolgt zudem auch seine/ihre eigenen Fragestellungen. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass er/sie nicht nur auf die gestellten Fragen antwortet, sondern die Frage erweitert und zum Teil auch umgeht.
Daher reicht das Befragen von ZeitzeugInnen allein nie aus, um sich ein Bild von vergangenen Entwicklungen und Zuständen zu machen. Zu ausschnitthaft sind die Erfahrungen, zu subjektiv und perspektivisch sind die Erinnerungen. Kritische Fragstellungen, präzise Analysen und ein Vergleich mit anderen Quellen ist unerlässlich.
Recherchieren Sie im Internet zu den Personen Anna Plaim und Prive Friedjung. Machen Sie sich Notizen zu deren Lebenslauf, Wohnorten, Berufstätigkeiten etc. Formulieren Sie für beide eine Einstiegsfrage und hören Sie sich dann den Beginn beider Interviews an.
Herunterladen (PDF)Oral-History-Interview
Oral-History-Interview
Je mehr man über die die Zeit- und Lebensumstände einer Person weiß, umso eher ist man schon während des Interviews in der Lage, besonders interessante, überraschende oder auch zweifelhafte Aussagen zu bemerken. Man sollte so weit wie möglich auch auf die konkrete Lebensgeschichte und die Lebensumstände des Zeitzeugen vorbereitet sein und sich Wissen über dessen Wohnort(e), Berufstätigkeiten etc. angeeignet haben. Erfahrungsgemäß gelingt ein Einstieg in ein Interview am besten mit allgemeinen Angaben zur Person und die aktuelle Situation.
Die Führung eines Zeitzeugeninterviews schwankt zwischen den zwei Polen des strukturierten und des offenen Interviews. Das strukturierte Interview besteht aus einer Reihe zuvor festgelegter Fragen, die im Gespräch nach und nach abgearbeitet werden. Das offene Interview hingegen lässt der interviewten Person viel Raum, um ihre eigene Geschichte zu erzählen.
Fragen, die mit „Ja“ oder „Nein“ sofort beendet sind oder eine bestimmte Antwort suggerieren, sollen vermieden werden und anstatt mit „Vermutlich hatten Sie nach 1945 eine unglückliche und harte Kindheit“ zu beginnen, sollte man mit „Bitte schildern Sie ihre Kindheit!“ anfangen.
Der Zeitzeuge oder die Zeitzeugin soll nicht unterbrochen werden, auch nicht, wenn eine Pause entsteht. Es kann ja sein, dass die Person die Pause benötigt, um sich besser zu erinnern, eine Formulierung zu finden oder eine Entscheidung darüber zu treffen, wovon er oder sie weiter berichten möchte.
Während des Gesprächs sollte keine Debatte begonnen werden – auch dann nicht, wenn moralisch fragwürdige Positionen vertreten werden oder offensichtlich Falsches gesagt wird. Möglich ist jedoch, die befragte Person dazu zu bringen, die Auffassung genauer zu präzisieren.
Jedoch ist zu bedenken, dass ein Oral-History-Interview kein Verhör ist: die Person, mit der man spricht, soll eigene Erinnerungen hervorrufen. Ständiges Verbessern ist auf jeden Fall fehl am Platz. Weiters ist es wichtig, die eigene Sprache dem intellektuellen Niveau des Gesprächspartners anzupassen. Die Fragen sollten in einer möglichst einfachen Sprache gestellt werden, damit sie ohne Probleme verstanden werden.
Ferner ist zu berücksichtigen, dass viele GesprächspartnerInnen dazu neigen, nicht unbedingt über das zu sprechen, was der oder die Fragende wissen will. Oft konzentrieren sich die Probanden auf die „großen“ Ereignisse der vergangenen Epoche, anstatt über ihr alltägliches Leben zu reden, was sehr oft Gegenstand des Interesses ist. Manchmal ist es auch genau umgekehrt: Die Gesprächspartner sprechen nur von gewöhnlichen, alltäglichen Vorkommnissen und erwähnen die „großen“ Ereignisse überhaupt nicht. Einerseits tun die Befragten dies aus Angst, von der gesellschaftlichen Norm abzuweichen, andererseits kann die Ursache auch eine Art Selbstschutz sein, ein Versuch, das Gespräch abzubremsen, damit schlechte Erinnerungen aus der Vergangenheit nicht zurückkehren.
„Welche Schritte sind notwendig?“ – Die zwei Phasen des Interviews
Analyse, Aufgabe 1
Bei diesem Schritt werden zugleich thematische Sequenzen gegliedert und in Themenblöcken (z.B. Ausbildung, Kindheit, Beruf, Privatleben, Politik etc.) zusammengefasst.
Analyse, Aufgabe 2
Auf der 2. Ebene steht die Rekonstruktion der Fakten-Darstellung und die Bewertung durch die Erzählinstanz im Fokus. Thematische Inkonsistenzen werden herausgefiltert und typische Argumentationsmuster herausgearbeitet. Für diese Detailanalyse dienen folgende Kontrollfragen als Hilfestellung:
Analyse, Aufgabe 3
An der Art, wie die befragte Person Ursachen und Wirkungen beschreibt, kann der Interpret erkennen, wie sein Perzeptionsmuster ist, d.h. wie er reale Gegebenheiten wahrnimmt, welche Selbstbilder entworfen und Selbstdefinitionen gegeben werden.
Anschließend müssen diese Ergebnisse in die Gesamterzählung eingeordnet werden und mit anderen Quellen verglichen werden. Ein quellenkritischer Zugang ist bei mündlichen Erzählungen von besonderer Bedeutung.
Oral-History-Interview
Oral-History-Interview
Oral-History-Interview
Oral-History-Interview
Bei der Analyse eines Interviews oder einer Erzählung wird sowohl der Inhalt, d. h. was erzählt wird, untersucht, als auch wie der Proband den Inhalt erzählt. In erster Linie (Ebene 1) werden die Fakten festgestellt, das heißt, die biografischen Daten, objektiven Gegebenheiten und ein Abriss des Lebenslaufes notiert.
Erst, wenn die äußere Quellenkritik ergeben hat, dass der Zeitzeuge/die Zeitzeugin zur Beantwortung der Fragestellung beitragen kann, erfolgt die immanente Analyse, also die „innere Quellenkritik“.
Den Abschluss bildet der Versuch, eine historische Darstellung zu schaffen, in die die Ergebnisse der Zeitzeugengespräche einfließen. Das Gespräch wird also für die Re-Konstruktion von Vergangenem genutzt. Andere Quellen, eventuell auch andere ZeitzeugInnen, bzw. die Historiografie können dabei zur Beurteilung genutzt werden.
Herunterladen (PDF)Im Sinne einer „äußeren Quellenkritik“ wird gezielt der „Quellenwert“ eines Zeitzeugen/einer Zeitzeugin geklärt.
Die möglichen Themen für lebensgeschichtliche Interviews sind sehr vielfältig. Grundlegende Bereiche sind oft außergewöhnliche Veränderungen im Leben und geschlechtsspezifische, herkunftsspezifische und berufsspezifische Reflexionen, das heißt, der Lebensverlauf der befragten Personen steht im Mittelpunkt. Folgende Bereiche eignen sich für ein Oral-History-Projekt:
Jedoch sind auch punktuelle Befragungen mit einer bestimmen Fragestellung möglich. Dabei werden Verwandte und Bekannte zu bestimmten Themen und Aspekten aus der Alltagsgeschichte, der Konsumgeschichte, der Wirtschaftsgeschichte etc. befragt:
Personenrecherche
Herunterladen (PDF)„Innere Quellenkritik“ und „äußere Quellenkritik“
Herunterladen (PDF)Bernhart, Yvonne/Krapp, Stefanie: Das narrative Interview. Ein Leitfaden zur rekonstruierten Auswertung. Landau (3. Überarbeitete Auflage) 2005.
Bertaux, Daniel/Bertaux-Wiame, Isabelle: Autobiographische Erinnerungen und kollektives Gedächtnis. In: Niethammer, Lutz (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral history“. Frankfurt am Main 1985, S. 146–165.
Henke-Bockschatz, Gerhard: Oral History im Geschichtsunterricht. Schwalbach (Methoden Historischen Lernens) 2014.
Niethammer, Lutz (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral history“. Frankfurt am Main 1985.
Obertreis Julia: Oral History – Geschichte und Konzeptionen, in: dies. (Hrsg.): Oral History (= Basistexte Geschichte 8), Stuttgart 2012, S. 7–28.
Plato, Alexander von: Nicht dasselbe. Oral History im Unterricht und in der Wissenschaft, in: Lappin Eleonore (Hrsg.): Die „Wahrheit“ der Erinnerung. Innsbruck/Wien 2008, S. 199–203.
Spuhler Gregor: Das Interview als Quelle historischer Erkenntnis. Methodische Bemerkungen zur Oral History. In: Dora Imhof, Sibylle Omlin (Hg.), Interviews. München 2010, S. 15–28.
Witt Dirk: Wie war das früher bei dir? Ein Oral-History-Projekt im historischen Anfangsunterricht, in: Geschichte lernen: Zeitzeugen und Oral History (Nr. 184/2018). Seelze 2018, S.12–15.
(Text und Inhalt: Lukas Brandl, 2019)