Audiomaterial als wissenschaftliche Quelle

Die Ö1-Mittagsjournale 1990–1999: Perspektiven, Probleme, Editionsmöglichkeiten

von Eva Reder

1. Abstract

The paper discusses audio material, its position as a scientific source material, its material-inherent specifics and theorization. Thereby it contextualizes audio material, e.g. tape recordings, digital audio tapes or files, with other source genres like written documents, pictures or film.

After an overview of the specifics of audio material, the paper deals with the question, how audio material, here in particular radio news can be classified, positioned and used as scientific source, hence detecting problems and prospects with respect to other source genres. Audio material is by now underutilized as a means of information by scholars, not least because their complicated transferability to literate systems: It is an objective of the paper to sum up and to discuss the aims of theoretization of audio sources and its significance for the arts. Besides the structural problems of transforming audiovisual media—with its high rate of non-verbal information—into text and the use scientists can make of them, its accessibility by editing is a major topic: editing solutions by publishing audio files in the internet seems a desirable way to overcome formatting issues. The paper focuses mainly on the the 1990s radio news program “Journale”, produced by the state-run Austrian Broadcasting Cooperation (ORF). The second, more technical part, describes the “Journale”: their structure, thematic focuses and the changes made over the three decades producing this popular radio show. Finally, the “Journale” homepage and its technical features is explained, by that showing how something fugitive like sound can be documented for the public and made more concrete and available.
Funded by the FWF (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung), the Österreichische Mediathek/Technisches Museum Wien, managed to digitize the recordings as part of the scientific project “Journale – The Radio News of ORF, 1990–1999” (duration 2010–2013) and now publishes the contents in a website. By that, the project makes the data accessible in the internet, for an academic and non-academic public, free of charge. The asset of user-friendliness and free accessibility is crucial for the project’s initiators, in particular in the context of knowledge transfer and the democratizing potential of the internet. Due to their excellent journalistic quality and their vast outreach, the digitized radio news features of the “Journale” provide insightful information sources for research in political science, history, linguistics, media studies, electoral analysis, but also for interested non-professionals. In this respect, the paper is to give information on the evanescent medium radio and how it may supply new insights. As the format of audio material has great impact on the way it is used as a source, at the same time digitization changes the characteristics of the audio files. The main feature of radio (and sound in general), momentariness, vanishes into a repeatable, reproducible, constant term. At least radio’s second main feature, sentiment, remains.

2. Einleitung

Dieser Beitrag widmet sich Audiomaterial, also Tondokumenten, ihren Spezifika und ihrer Theoretisierung wobei hier die Kontextualisierung mit anderen Quellengattungen wie schriftlichen Quellen, Bildquellen oder Film als wesentlich erscheint. Nach einem Überblick über den Forschungsstand wird die Frage gestellt, wie man mit Audiomaterial als wissenschaftlicher Quelle umgehen kann, welche Schwierigkeiten dabei auftreten und wo bei dieser noch wenig genutzten Quellengattung Chancen gegenüber anderen Quellenarten liegen.
Besonderes Augenmerk wird hier dem Problem der schwierigen Übertragbarkeit bestimmter Aspekte audiovisueller Information ins Schriftliche, sowie Lösungsperspektiven bezüglich der Edition audiovisueller Medien – insbesondere im Internet – gewidmet.

Das eigentliche Thema sind dabei die Ö1-Mittagsjournale des ORF aus den 1990er Jahren, die von der Österreichischen Mediathek digitalisiert vorliegen. Sie wurden im Rahmen des FWF-Projekts „Journale – The Radio News of ORF, 1990–1999“ (2010–2013) auf der Homepage der Österreichischen Mediathek der Öffentlichkeit kostenlos zugänglich gemacht. Diese Schwerpunktsetzung lassen sich vor allem dadurch begründen, dass Hörfunk eine bis dato, im Unterschied etwa zu Printmedien, von der Wissenschaft kaum genutzte Mediengattung darstellt.

Der Beitrag soll Aufschluss darüber geben, was das an sich flüchtige Medium Radio an Erkenntnisgewinn leisten kann und wie es gleichzeitig durch die Aufzeichnung auf DAT-Kassetten und in Folge durch die Digitalisierung, also quasi durch die Technik, in seinen Eigenschaften verändert wird. Darüber hinaus wird ein Überblick zur Theoretisierung von Tönen als wissenschaftliche Quelle gegeben sowie Chancen und Problemstellungen dieser Quellen vor allem für die Geistes-und Kulturwissenschaften aufgezeigt.

Den abschließenden Teil bildet die Beschreibung der Homepage der „Journale“, auf der die Mittagsjournal-Sendungen von 1967–1999 abrufbar sind, sowie die Beschreibung ihres technischen Aufbaus, der Benutzungsfunktionen und Vorteile für den Nutzer. Damit wird zugleich gezeigt, wie Radiobeiträge – flüchtige Töne und Stimmen – zu edieren sind, das heißt, wie man ihren Inhalt dokumentiert und wie Benutzer damit umgehen können.

3. Spezifika von Audiomaterialien

Besonders gegenüber schriftlichen Quellen, aber auch im Vergleich zu Bildquellen oder Film führen Audioquellen in den Geisteswissenschaften bis dato eher ein Schattendasein. Audioquellen sind schwer zugänglich, weil sie – im Unterschied zum Text – quasi implizit vorliegen und erst apparativ „entpackt“ werden müssen. Sie differenzieren sich aber auch gegenüber anderen Formen von AV-Medien, z. B. dem Film, der – anders als Ton – zwei Sinne anspricht: das Sehen und meist auch das Hören und eine anderen Herangehensweise verlangt. – Wie Schriftquellen können Tonaufnahmen in publizierter und nicht-publizierter Form vorliegen, wobei Radiomaterial einen Zwischentypus darstellt: publiziert im Sinne allgemeiner Verbreitung, nicht-publiziert, weil eben nur die Übertragung öffentlich und allerorten zu empfangen ist, während die Aufzeichnung als Unikat in den Archiven der Rundfunkanstalten ruht.) AV-Quellen haben gegenüber schriftlichen Quellen den Mehrwert, dass sie über die Narrative von Ereignissen hinaus Sinneseindrücke vermitteln, denen freilich schwer ein wissenschaftlicher Text in seiner normierten schriftlichen Form gerecht werden kann. Der Umgang mit Audiomaterial ist kompliziert, man kann es nicht querlesen und überfliegen, sondern muss es oft mehrmals anhören, vor- und zurückspielen, um einen speziellen Erkenntnisgewinn zu erhalten. Zudem verfügt Audiomaterial häufig nur über eine begrenzte Lebensdauer, was die Archivierung und Benutzung zu einer kostspieligen Arbeit macht. Audioquellen wird oft eine höhere Objektivität zugesprochen, da sie Quelle und technische Apparatur gleichzeitig sind, welche Töne vermeintlich lediglich aufzeichnen, obwohl die Entscheidung, was aufgenommen und wie dem Hörer präsentiert wird, eine durchaus bewusste bis manipulative ist (Fröschl/Hubert 2010: 608). Tondokumente scheinen aber unverfälscht Realitäten wiederzugeben, was sie für den Benutzer zu einer verführerischen, aber auch nicht völlig problemlosen Informationsquelle macht, die es – genau wie andere Quellen – kritisch zu prüfen gilt. Ein weiteres Hemmnis für eine verstärkte Nutzung von Audioquellen sind Urheberrechte, welche die freie Zugänglichkeit erheblich einschränken: Erst 50 Jahre nach Produktion und 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers ist das Material derzeit frei zugänglich. Mehr noch als Film-und Bildquellen haben insbesondere schriftliche Quellen eine weitaus längere Tradition in der westlichen Kultur. Sie sind quasi Träger von Wissen katexochen. Textquellen sind zudem leichter für den Benutzer in der Handhabung, man kann sie querlesen, sie linear in Kapitel ordnen. In unserer visuell geprägten Gesellschaft, in der Buchdruck eine Legitimierung von Jahrhunderten hat, werden gedruckte Quellen privilegiert behandelt (Goodale 2011: 4 f).
Tatsächlich gibt es seit Platos Höhlengleichnis eine übermächtige Tradition des Sehens, nicht des Hörens in der westlichen Tradition. Hier kann man natürlich einwenden, dass auch das Gutenberg-Universum keineswegs ausdrücklich visuell geprägt ist, sondern das Auge auf die Dienstleistung des Lesens reduziert und das universelle Sehen und Wahrnehmen im Sinne des „orbis pictus“ nicht stattfindet. Orbis Pictus (dt. die sichtbare Welt), ein bekanntes Schulbuch mit Illustrationen aus dem 17. Jahrhundert, wurde vom tschechisches Gelehrten Johann Amos Comenius verfasst. Es beschreibt die Welt, Pflanzen, Tiere, den Himmel, Menschen, Berufe, Emotionen, Religionen, kurz, das Universum. 
Die gedruckte Quelle, per se visuell ausgerichtet, ist Dreh- und Angelpunkt der wissenschaftlichen Arbeit von Forschern, die sich auf die Betrachtung von Sachverhalten konzentrierten. Zudem ist sie ob ihres Formats weitaus leichter in schriftlicher Form reproduzierbar als Töne. Laute wurden ihrer Sinnlichkeit wegen vernachlässigt. (Goodale 2011: 3). Menschen sind abhängig von der Schrift, ohne Schrift kann man nichts nachschauen, in schriftlosen Kulturen sind Wörter lediglich Laute: „You might call them back – ‚recall‘ them. But there is nowhere to look for them“ (Ong 1999: 60 f). Ungleich dem Sehvermögen, welches Bewegung, aber auch Stillstand registrieren kann, gibt es beim Geräusch dazu kein Äquivalent, es existiert nur, wenn es bereits verschallt ist. Töne, anders als Text nicht-linear und diffus, sind vom menschlichen Gehirn viel schwerer einzuordnen. Tatsächlich fällt es dem Benutzer von Tonband oder Film durch die fehlende Übersichtlichkeit schwerer, sich inhaltlich zu orientieren – oft dauert es länger bis man findet, was man sucht. Durch die Tradition des Buchdruckes wird angenommen, dass schriftliche Berichte mehr Aussagekraft und Verlässlichkeit besitzen als das gesprochenen Wort, (man denke nur an die Bedeutung von schriftlichen Dokumenten wie Verträgen in Wirtschaft und Justiz) und hält dies für ein scheinbar unverrückbares Paradigma: tatsächlich schätzten Kulturen, die mit Literalisierung begonnen hatten, das Schreiben noch gering und sahen Schriftstücke sogar als weniger glaubwürdig an, wie etwa das England des 11. und 12. Jahrhunderts. (Clanchy 1979) Die Menschen damals hegten ein tiefes Misstrauen gegenüber dieser neuen, teuren und mühsamen Technik: so entwickelten sich notarielle Methoden erst spät, Dokumente wurden nicht schriftlich beglaubigt, sondern mit Gegenständen, die man an den Schriftstücken befestigte und lebende Zeugen galten vor Gericht glaubhafter als Texte. In der Antike war Lesen fast gleichbedeutend mit laut Lesen und bis ins 19. Jahrhundert wurden Texte so verfasst, dass man sie laut vorlesen konnte. Auch im Hinblick darauf, dass Bücher bis dahin nicht so einfach zu vervielfältigen waren wurde bis ins 18. Jahrhundert hinein gemeinsam gelesen, bzw. rezitiert (Ong 1987: 151).

4. Radio als Medium: Identitätsstiftung über den Äther versus „massenhafter Einsamkeit“

Radiosendungen vereinen die Spezifika von Audiomaterial mit jenen journalistischer Quellen, also das Persönliche, Unmittelbare des Tons mit den der Objektivität verpflichteten Standards von Journalismus im Kontext des Rundfunks, der in Österreich bis in die 1990er ausschließlich ein öffentlich-rechtlicher war. Medien waren in Europa bis in die 1970er kaum Objekt akademischer Studien, vor allem Populärkultur wie Radio war im Unterschied zu Symphonien, Folklore oder den Sonetten Shakespeares kein wissenschaftliches Thema (Goodale 2011: 5). Als Populärkultur respektables Thema für Studien wurde, galt Radio als Medium als zu althergebracht und wurde von Film, TV, Internet überholt. Die Wissenschaft in den USA hingegen interessiert sich schon früh, ab den 1930ern für Radio, vor allem für die empirische Radioforschung, die sich auf Umfragedaten stützt und das Wahlverhalten der Amerikaner und den Einfluss der Massenmedien darauf thematisiert (Hagen 2005: 286). So finanzierte die Rockefeller-Stiftung in den 1930ern etwa das „Princeton Radio Research Project“ in dessen Rahmen der österreichische Soziologe Paul Lazarsfeld, der ebenfalls emigrierte Max Horkheimer sowie Theodor W. Adorno  forschten (Hagen 2005: 244, 247 f). Der US-amerikanische Psychologe Hadley Cantril war Direktor eines der ersten Radio-Forschungsprojekte, 1940 publizierte er „The Invasion from Mars. A Study of the Psychology of Panic“. Cantril verteilte Fragebögen, in denen er die Menschen, die nach der Ausstrahlung des Radiohörspiels „Krieg der Welten“ (gesprochen von Orson Welles) in Panik geraten waren detailliert befragte und leistete so einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Meinungsforschung.

Radio als Quellenbestand wird in der Wissenschaft widersprüchlich gesehen: einerseits betonen manche Forscher, dass Radio den Zuhörern den Eindruck eines direkten Kontakts mit der Welt gibt und heben sein emotionsförderndes und identitätsstiftendes Potential hervor. (Hagen 2005: 136; Scott 1999: 235–245; Stolle 2006: 325). Da das menschliche Gedächtnis durch Kommunikation und Emotion geprägt wird, kann das Radio, das öffentliche Verhaltensmuster beschreibt und Gefühle auf Ton codiert, ein Deutungsinstrument dafür sein, wie Menschen mit Emotionen und Reizen umgehen. (Stolle 2006: 331). Mehr als das Telefon oder der Telegraph, sei das Radio „die Verlängerung des Zentralen Nervensystems“(Mc Luhan 2006: 254), so McLuhan, welches sich der menschlichen Sprache selbst anpasst, und eine persönliche Direktheit beinhaltet, die privat und intim sei. Gleichzeitig wird das Radio als Medium der „massenhaften Einsamkeit“ (Jungen 2006: 316) beschrieben, als typische Erscheinung von Isolation. Radio habe die Eigenart, „dass ein Massenkontakt seine Auswirkungen nicht auf die versammelte Masse entfaltet, sondern auf die Solitären und Einsamen im stärksten Maße.“ (Jungen 2006: 317).

Radio-Tondokumente öffentlich-rechtlicher Sender geben staatlich gebührenfinanzierte Sichtweisen auf zeitgeschichtliche Themen wieder. (Stolle 2006: 327). Durch ihren Kultur- und Bildungsauftrag sind die Sendungen geprägt von einer hohen journalistischen Qualität und haben ein großes Vertrauen der Hörer. Es ist schwierig, das Beeinflussungspotential der Sendungen zu benennen, aufgrund der öffentlich-rechtlichen Struktur und der oft großen Reichweite kann davon ausgegangen werden, dass Radiomacher und ‑nutzer eine große Schnittmenge gemeinsamer Ansichten und Stimmungen teilen(Stolle 2006: 328). Der deutsche Historiker Michael Stolle, der in seinem Beitrag die Darstellung von Kriegsgefangenschaft und Heimkehr im öffentlich-rechtlichen westdeutschen Radio der frühen 1950er untersucht und sich der Frage widmet, wie das Radio mit Emotionen umgeht, benennt drei Beitragsgattungen des Mediums Radio, die er als besonders erkenntnisbringend erachtet: Live-Reportagen, Radiointerviews, öffentliche Reden, also alle Arten von O‑Tönen (dies trifft im Übrigen auch für die Ö1-Mittagsjournale zu).

Hier hat das Radiodokument als wissenschaftliche Quelle insofern einen großen Informationsvorsprung gegenüber gedruckten Quellen, da es oft sehr nahe am Menschen und seiner Umwelt Vorgänge, Stimmungen und Situationen dokumentiert, die kaum ein Print-Journalist schriftlich in Worte fassen würde oder könnte . Wortmeldungen der Interviewten geben Aufschluss über ihre Mentalitäten, Weltbilder und Geisteshaltungen, auch wenn oder gerade weil sie nur flüchtige, alltägliche Momentaufnahmen sind. Besonders Interviews können hier wertvolle Erkenntnisgewinne liefern, da sie im Vorfeld geplant sind (der Journalist überlegt sich im Vorfeld Fragen, sammelt Informationen über seinen Interviewpartner), auch den Redakteur selbst mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und den Interviewten ausführlich zu Wort kommen lassen. Hier haben selektive Wahrnehmung und persönliche Erinnerung eine große Bedeutung, subjektiv Erlebtes wird nun greifbar, stellt eine Zusatzinformation zu objektivierbaren Fakten dar und kann darüber hinaus mit anderen Quellen konfrontiert werden, um diese zu interpretieren (Hubert 1977: 38 f). Wesentlich sind auch der Zeitpunkt des Interviews sowie der Zeitraum zwischen Ereignis und Befragung, was aber im Radio, vor allem bei Reportagen und Liveberichten, häufig als zeitnah zu beschreiben ist. Ähnliches trifft auf die Reportage zu, obwohl hier das Ausmaß der Planung variieren kann. Hier wird klar, welche Inhalte dem Befragenden relevant erscheinen, was thematisiert und was ausgeblendet wird (Stolle 2006: 334).

Audioquellen sind unmittelbarer, aber auch flüchtiger als schriftliches Material. Kaum gehört, ist das Gehörte nicht mehr greifbar und benötigt deshalb womöglich eine eingängigere, plakativere Sprache, die mehr inhaltlicher Wiederholungen bedarf. Dies trifft auch auf das Radio zu: der Radiomacher nimmt das Gesagte auf, schneidet und sendet es, wodurch es bei Reportagen, Live-Berichten oder Original-Tönen „echter“ wirkt als Printmedien und dem Hörer ein Miterleben, mit-leben suggeriert, auch wenn, es wie der deutsche Medienwissenschaftler Werner Faulstich anmerkt, die Wirklichkeit nicht nur vermittelt sondern auch dramatisiert (Stolle 2006: 334). Da Radiobericht zeitnäher und aktueller sind als Zeitungsartikel, können sie schwerer durch Erinnerung und Eindrücke des Berichtenden im Nachhinein verfälscht werden. Gleichzeitig gibt das Radio vor allem bei Interviews oder Einblendungen von O‑Tönen den subjektiven Meinungen des Interviewten viel Raum und versieht sie mit dem Hörerlebnis der Stimme. Durch die Flüchtigkeit des Mediums sind auch eventuelle Fehler flüchtiger und für den Hörer schwieriger auszumachen, da er üblicherweise den Beitrag nur einmal hört und kaum ein Hörer neben dem Radio sitzt und den gesprochenen Text mitschreibt, insofern werden mögliche inhaltliche Fehler weniger registriert als in Printmedien. Allerdings ist dieses dem Medium Radio scheinbar systemimmanentes Attribut der Flüchtigkeit keineswegs in Stein gemeißelt: durch Aufnahme, Digitalisierung, Katalogisierung und die Zugänglichmachung im Internet verschwindet auch das Spezifikum der Flüchtigkeit. Insofern wird ersichtlich, dass die Beschaffenheit der Quelle nicht nur die Art und Weise der Editierung beeinflusst, sondern auch die Quelle nachhaltig durch die Edition verändert wird.

5. “The muse learns to listen” – Forschungsstand und Theoretisierung von Tönen und Audioquellen

Die Chance und gleichzeitig die Achillesferse von Audioquellen ist ihre Vielfalt: die Tatsache, dass eine Reihe an Disziplinen aus ihnen Erkenntnisse gewinnen kann und Linguisten, Historiker, Soziologen, Ethnologen, Medienwissenschaftler sich ihnen widmen – oder sich ihnen widmen könnten/sollten, ist auch die Ursache für die oft mangelnde wissenschaftliche Vernetzung, vor allem was Begrifflichkeiten, Methoden und Theorien anbelangt (Goodale 2011: 7). Tatsächlich mieden Wissenschaftler lange nicht-literalisierte Kulturen in ihren Forschungen. Gerade in der Wissenschaft, die so eng mit der Schrift verbunden ist, erscheinen orale Kulturen, die keine Texte besitzen, keinen Wissensspeicher, vergänglich und wenig analytisch (Ong 1987: 16, 19, 39). Einen fundamentalen Beitrag zu Mündlichkeit, „Oralität“, hat der US-amerikanische Medientheoretiker Walter J. Ong geleistet. Ong prägte den Begriff der „sekundären Oralität“ und sieht in elektronischen Medien wie Radio, Fernsehen und Tonaufnahmen eine Renaissance antiker, schriftloser Erzählkulturen und ihrer verbaler Überlieferungen. Zwar blieb Ong gerade bezüglich dieses von ihm geprägten Begriffes vage, leistete jedoch einen entscheidenden Beitrag für die Bewusstmachung oraler Kulturen. Er beschrieb sie als aufzählend, sich wiederholend (anders könnten sich nicht-literalisierte Wissensinhalte nicht merken), diskursiv (man braucht einen Gesprächspartner, um das Wissen memorieren zu können), subjektiv (nur die eigene Lebenswelt und die des näheren Umfeldes wird beschrieben) und über keine neutralen Ausdrucksmittel wie Listen, Register oder Statistiken verfügend (Ong 1987: 39–50). Eher einfühlend als objektiv, sehen orale Kulturen auch keinen Sinn in abstrakten Begriffen, Kategorien und Definitionen, was sie für die analysebeflissene Wissenschaft schwer greifbar macht (Ong 1987: 58).

Freilich sind Töne an sich vor allem in den auf emotionale und sinnliche Aspekte fokussierten Kulturwissenschaften ein Thema, jedoch benutzen zahlreiche Forscher auch hier keine audiovisuellen Medien als Quellen, sondern nähern sich Tönen über Umwege: sie untersuchen alte Musikinstrumente, Glocken, Mobiliar von Wohnungen aus der Epoche, deren akustische Landschaft sie aufspüren wollen, rekonstruieren Gebäude und ihren Klang anhand von architektonischen Plänen, Landkarten und rekonstruieren sie – was einer gewissen Ironie nicht entbehrt – anhand schriftlicher Quellen: dazu gehören Reiseberichte, biographische Aufzeichnungen, aber auch die oft sehr lautmalerischen Handzettel von Konzerten oder Ankündigungen von Musikaufführungen (Smith 2004: 21–41). Dies geschieht vor allem aus zeit- und technikspezifischen Gründen: ein Anglist, der über den Klang des frühmodernen Englands oder über pseudo-reale, akustische Tonträger von Lynchjustiz an Schwarzen im Süden der USA Ende des 19. Jahrhunderts schreibt, ein Historiker, der über Glocken im ländlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts forscht, kann schwerlich Audioquellen für seine Arbeit heranziehen, da entweder gar keine Tondokumente aus jener Zeit existieren oder nicht erhalten bzw. abspielbar sind (Stadler 2010: 87–106; Corbin 2004: 184–206). Insofern müssen sich Wissenschaftler auf Sekundärquellen, durch die sich ihnen die Töne erschließen, verlassen und arbeiten häufig mit Transkriptionen des akustischen Materials.

Zwar ist das Bewusstsein der Wissenschaft für Töne gestiegen, jedoch nicht unbedingt für Audioquellen in demselben Maße. Noch dazu ist anzumerken, dass die mangelnde wissenschaftliche Verwendung von AV-Medien auch jene Epoche betrifft, die in ihrem Alltag entscheidend von Hörfunk, Film und Tonaufzeichnungen geprägt wurde: das 20. Jahrhundert. Auch für diesen Zeitraum sind sie als wissenschaftliche Quellen deutlich unterrepräsentiert, es regiert weiter das Schriftliche, obwohl Töne und bewegte Bilder im gegenwärtigen Alltag bereits überwiegen (Fröschl/Hubert 2010: 606 f). Diese fehlende Widerspiegelung des Alltags in der Wissenschaft hängt vor allem mit der oft sehr mangelhaften Zugänglichkeit von Audiomaterial zusammen sowie dem Fehlen von zentralen Indexsystemen für seine Inhalte, abgesehen von der grundsätzlich sehr aufwändigen, aber aus konservatorischer Sicht unerlässlichen Digitalisierungsarbeit. Auffallend ist, dass vor allem Kulturwissenschaftler mehr Aufmerksamkeit für Töne fordern, aber kaum jemand diesen Bereich als eigenes Forschungsfeld sieht und auch explizite Theorien fehlen: man muss sich mit einer Vielzahl an Theorien behelfen. Der von manchen, ganz im Zeichen der cultural studies, geforderte sonic turn, steht vor dem Problem, dass allerseits betont wird, wie wichtig akustische Quellen sind, kaum aber jemand weiß, wie mit ihnen umzugehen ist. Ein interessanter Lösungsvorschlag, der vom US-amerikanischen Kommunikationswissenschafter Greg Goodale stammt, ist es, Töne zu lesen: gleichsam wie der pictorial oder iconic turn (Bachmann-Medick 2006) seit den 1990ern Bilder als Quelle versteht und die Bild- und Filmwissenschaft revolutioniert hat, meint er, dass diese Chancen auf das Hörerlebnis übertragbar sind (Goodale 2011: 12). Der Vergleich von Tonaufzeichnungen mit bildlichen Quellen ist insofern sinnvoll, da das Hören von bestimmten Geräuschen nicht nur bestimmte Gefühle auslöst, sondern auch Bilder in den Köpfen entstehen lässt (man denke etwa an das Geräusch von Sirenen bei Einsatzfahrzeugen, das Plätschern eines Baches, Beethovens Fünfte Symphonie oder Zirkusmusik, jeder wird in seinem Inneren individuelle und für den eigenen Kulturkreis spezifische Bilder und Emotionen haben). Um Töne „sehen“ und „lesen“ zu können, meint Goodale, müsse man eine Reihe von Theorien anwenden, von Ong, Adorno, Bourdieu, Lacan, auch wenn sich diese zum Teil widersprächen. Goodale sieht Analogien in der Entwicklung der visual studies der 1970er und der sound studies Anfang des 21. Jahrhunderts, zudem wurden bereits in der Hochblüte des Radios, der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, visuelle Begriffe für akustische Phänomene verwendet (Goodale 2011: 10). Visuelle Theoretiker hätten zudem Begriffe für kultur- und zeitspezifische Perzeptionsweisen entwickelt, welche man auch auf „period ears“, also die Art, wie eine Epoche, ein Milieu oder Kulturkreis von den Menschen gehört wurde, übertragen könne.

Als Beispiel eines solchen „period ear“ führt Goodale die Radio-Debatte des amtierenden Präsidenten Herbert Hoover und seines Herausforderers Franklin D. Roosevelt bei den US-Präsidentschaftswahlen von 1932 an: die Perzeptionsweise, dass Hoover als kalter Technokrat, Roosevelt hingegen als aufrichtig und sympathisch gesehen wurde, entschieden nicht zuletzt die Stimmen und Sprechweisen der beiden politischen Kontrahenten. Dass der Tonfall der gesprochenen Worte dahingehend interpretiert wurde, was die Hörerschaft erwartete, sei nicht überraschend, da lange die Stimme als Seele selbst oder als ihr Markierungszeichen gesehen wurde: „voices ‚paint’ character on the radio.“ (Goodale 2011: 10). Goodale, der selbst angibt, in der literarischen schriftlichen Kultur verhaftet zu sein, räumt ein, dass sein Lösungsvorschlag seine Grenzen habe: man könnte anhand dieser Vorgehensweise manche Töne lesen, aber nicht alle. Zuzuhören sei viel mehr als eine neue Sprache zu lernen, sondern bedeute eine neue Art, Dinge zu lesen, eine, die Interpretationsmöglichkeiten und Sinneszusammenhänge mehr durch die Ohren als durch die Augen produziere (Goodale 2011: 139 f). Dies könne analog geschehen zu Geertz „dichter Beschreibung“ die versucht, ganze Kulturen anhand ihrer Praktiken und Handlungen zu verstehen und diese zu interpretieren (Geertz: 2003). Auch im Hinblick darauf, dass Kulturwissenschaftler mittlerweile in der Lage sind, visuelle Objekte besser zu lesen, erhofft sich Goodale neue Erkenntnisse von Tonaufnahmen, die man im Rahmen der jeweiligen Kultur beschreiben und kontextualisieren kann. Ob sich diese Vorgehensweise durchsetzen wird, sie womöglich neue Synthesen liefern oder neue Denkanstöße auch für visuelle Studien liefern kann oder ob sie doch zu stark in visuellen Denkweisen verhaftet ist, wird sich zeigen, doch dafür braucht es mehr Studien in den Geisteswissenschaften, die sich des Themenfeldes Töne annehmen und dabei bereit sind, neue Methoden für die Interpretation von Primärquellen zu entwickeln.

6. Formatprobleme: Töne „lesen“?

Wie bereits angedeutet, stellt sich das Problem der Transferierung von Audioquellen in einen Text sowie die Frage, ob ein Text Tönen, Emotionen, Klangfarben, Zwischentönen, Dialekt gerecht werden kann. Üblicherweise geht man auf den Inhalt des gesprochenen Texts ein, beschreibt mögliche Spezifika der Sprache sowie den O‑Ton. Die Problematik, das Gehörte in Worte zu fassen, ist auch die Ursache für die bis dato noch nicht stattgefundene Emanzipierung der Audioquelle von anderen Quellengattungen, wie schon 1980 festgestellt wurde (Hubert 1980: 42). Doch was hat sich seitdem, 30 Jahre später, im Zeitalter des Internets weiterentwickelt? Nach wie vor haben Wissenschaftler das Problem, Töne im gedruckten Format wiederzugeben: anders als wörtliche Zitate sind Tonaufnahmen in Journals und Büchern viel schwieriger reproduzierbar als Bilder und Zitate (Goodale 2011: 5). Die Idee, sich mit CDs als Zusatzmaterial zu behelfen, zieht nicht selten Probleme mit dem Copyright nach sich. Eine Perspektive ist die Edition von Audioquellen im Internet sowie Onlinepublishing in E-Journals, eine Möglichkeit, die in den kommenden Jahren, nicht zuletzt aufgrund von finanziellen Gegebenheiten wie steigender Zeitschriften- und Druckkosten sowie dem Gedanken verstärkter Zugänglichkeit und Demokratisierung im Netz wohl an Aktualität gewinnen dürfte. Womöglich gibt es bald Programme, die gesprochene Texte transkribieren, dann werden Audioquellen vermutlich weitaus mehr genutzt werden – mit all den bereits angedeuteten und noch zu besprechenden Problemen der Reduktion von Ton auf Transkript. Oft erscheint es, als könnten Audioquellen nicht für sich selbst stehen. Reflexartig fragt man nach vergleichbaren gedruckten Quellen, umgekehrt halten es nur wenige Wissenschaftler für nötig, gedruckte Quellen mit thematisch entsprechenden Tonaufnahmen, so diese vorhanden und zugänglich sind, zu konfrontieren. Dabei können Audioquellen, besonders wenn es um die Dokumentation von Alltag, Stimmungen, Emotionen, Dialekt, Authentizität geht, gegenüber anderen Quellen einen Erkenntnisgewinn darstellen, da diese Aspekte sehr häufig von schriftlichen Aufzeichnungen ausgespart werden (Hubert/Jagschitz 1977: 20).

Durch diese Hierarchisierung von Quellengattungen wird klar, wie tief wir in der schriftlichen Kultur verwurzelt sind. Selbst Verfechter von Audiodokumenten meinen, dass der Quellenwert des Tondokumentes nur im Zusammenhang mit anderen Arten von Quellen beantwortet werden könnte, um eine maximale Aussage zu erhalten (Hubert/Jagschitz 1977: 18 f). Dort wo die Schrift für die Dokumentation nicht ausreiche, beginne der Wirkungsbereich von Tondokumenten. Dies trifft zwar prinzipiell auf alle Quellengattungen zu, jedoch ergibt sich hier oft das Problem der Machbarkeit: es kann aufgrund der Fülle an Quellen und Daten eher an eine Lebensaufgabe grenzen, alle Quellen miteinander zu vergleichen als ein klar umrissenes, zeitlich begrenztes Forschungsprojekt zu bearbeiten. Hier seien die Ö1-Mittagsjournale und ihre Jugoslawienberichterstattung als Beispiel angeführt: hier die entsprechenden Beiträge mit Printmedien zu konfrontieren und zu vergleichen würde vom Arbeitsvolumen ein mehrköpfiges Projektteam erfordern. Tondokumente für die Verwendung in einer wissenschaftlichen Publikation als reine Transkripte zu behandeln, wird nicht unkritisch gesehen: man kümmere sich lediglich um den formulierten Inhalt, dem Tondokument werde die Rolle eines Transitmediums zuteil, Tonspezifika wie Sprache, Stimmvolumen und Tonfall könnten so nicht berücksichtigt werden (Hubert/Jagschitz 1977: 21). Dies wird vor allem anhand ethnologischer Studien deutlich, bei denen orale Kulturen schriftlich aufgezeichnet werden: damit werden diese unweigerlich gewissen interpretativen Eingriffen sowie der eigenen Mentalität unterworfen, das Indigenenidiom wird eventuell umgeformt, um es modernem Bewusstsein verständlich zu machen (Havelock 2007: 38). Ob diese Tendenzen allerdings ein reines Formatproblem darstellen, ist fraglich, vielmehr tauchen sie genauso bei anderen Formaten auf und sind, zumindest was die Adaptierung fremder oder vergangener Kulturen an eigene Denkweisen anbelangt, keineswegs „Vorrecht“ audiovisueller Quellen. Die Kritik an der Transkription von Audiomaterialien ist berechtigt, jedoch zeigt sich, dass Tondokumente nicht nur weitaus mehr einem Legitimationsdruck unterworfen sind, sondern man auch von ihnen Leistungen erwartet, die auch andere Quellengattungen nicht unbedingt erfüllen: auch sie schöpfen ihre theoretischen Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns nicht immer aus.

Um Töne zu beschreiben, muss man sich oft in die Niederungen des Alltags, der Umgangssprache, Dialekte und Akzente begeben und darf sich nicht zu schade sein, bei Bedarf deren Ausdrücke zu erklären oder Sprechweisen en detail zu beschreiben und vor allem diese zu kontextualisieren (Goodale 2011: 35–46; 92–105). Goodale beschreibt dies anschaulich am Beispiel von Theodore Roosevelt und dem „Klang“ von Präsidentschaft in den USA und wie sich diese im Laufe der Zeit veränderte sowie anhand der stereotypisierten Vorstellungen über „schwarze“ und „weiße“ Stimmen und Musik. In den USA der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die Hautfarbe eines Menschen entscheidend für seinen sozialen Status war, definierte die Stimme noch stärker als das Äußere Vorstellungen über Rasse, so Goodale (Goodale 2011: 95). Man muss auf die Stimmen und deren Emotionalität eingehen, in der Lage sein, Atmosphärisches zu beschreiben, mögliche Pannen und Sprechpausen erwähnen. Das erfordert genaue Beobachtungsgabe und Übung, sind wir doch viel weniger gewöhnt, das zu beschreiben, was wir hören, als das, was wir sehen.
So wichtig eine Bewusstseinsbildung für Audiomaterial als wissenschaftliche Quelle ist, sollte man schriftliches Material und Tondokumente nicht zu stark antagonisieren. Bei  aller Legitimität der Audioquellen stehen diese natürlich nicht für sich alleine: sie werden von Text beeinflusst und umgekehrt. Die allzu große Betonung der Unterschiede zwischen schriftlichem und akustischem Material sowie der Entwurf eines möglichen Gegenmonopols des Hörens im Gegensatz zum Sehen wird auch von anderen Wissenschaftlern skeptisch gesehen: der Musiktheoretiker Veit Erlmann sieht Debatten über die Hierarchien von Sinnen immer gleichzeitig mit kulturellen und politischen Agenden verknüpft (Erlmann 2004: 4 f). Er hinterfragt das Paradigma, das Auge als Sinnesorgan der Moderne, das Ohr hingegen als vormodernes Organ erzählerischer Kulturen, aber auch als Symbol neuer Sensibilität zu begreifen. Diese Einteilung in modern – vormodern sei zu simpel, stattdessen plädiert er dafür, die Sinne als flexibles und integratives Netzwerk zu begreifen. Hier knüpft Erlmann an die Radiotheoretiker und Tontechniker der 1920er und 1930er an, die glaubten, eine „universelle Ökumene zwischen Sehern/Hörern zu schaffen, die ihr Erbe und Traditionen enthusiastisch ablegen und dafür neue Formen globaler Nationalität annehmen würden“ (Erlmann 2004: 11). Das in der Wissenschaft beschworene sinnliche Hörerlebnis, ist ein wesentlicher Aspekt von Audioquellen, allerdings sind diese letztlich Mittel zum Zweck – nämlich dem Wissenschaftler Informationen zu liefern. Sobald ein O‑Ton aufgrund seiner Fremdsprachigkeit ins Deutsche übersetzt wird, sind Emotion, Klangfarbe etc. ja bereits übertönt und verfälscht und werden – analog zur Verschriftlichung – auf ihren reinen Inhalt reduziert, nicht auf ihre Individualität. Was tut der Redakteur, bevor er den Text für die Sendung „einspricht“? Er schreibt ihn auf, insofern ist auch das gesprochene Wort Literalität unterworfen und steht nicht für sich alleine. Pragmatischerweise muss man abschließend feststellen, dass es noch immer besser ist, Tondokumente in einer Publikation auch schriftlichen Prinzipien zu unterwerfen, also zu versuchen ihren Inhalt und ihre Atmosphäre zu beschreiben sowie ihre Nicht-Linearität in Betracht zu ziehen, als sie gar nicht zu verwenden. Bis wir Töne „sehen“ können, wird noch viel Zeit vergehen.

7. Audioquelle: Das Mittagsjournal

Das Mittagsjournal, stellt die wichtigste Sendung im Tagesablauf des Radiosenders Ö1 dar und verfügt auch über die höchste Hörerfrequenz (Hubauer 1–5). Die Sendedauer des Mittagsjournals, liegt seit dessen Beginn im Oktober 1967 bei etwa einer Stunde, genauer bei 59 Minuten und eine unterschiedliche Anzahl von Sekunden. Der Unterschied ist jeweils abhängig von der Moderation, der Anzahl der Beiträge und Programmhinweisen, möglichen technischen Pannen, zeitlichen Verzögerungen bei Live-Beiträgen und noch einigen weiteren, aber ähnlich gearteten Punkten. Ausnahmen bilden beim Ö1-Mittagsjournal der 24. Dezember und der 31. Dezember. An diesen Tagen wurden nur gekürzte Sendungen von zirka 30 bis 40 Minuten Dauer ausgestrahlt, außer an einem Sonntag, an dem ausnahmslos keine Journalsendungen ausgestrahlt wurden. Nachdem die Dauer des Ö1-Mittagsjournals grundsätzlich auf eine Stunde beschränkt ist, ausgenommen die Sendung wurde aus aktuellem Anlass erweitert, führten gröbere Störungen im Zeitablauf, wie technische Gebrechen oder unvorhergesehene Wartezeiten bei Live-Beiträgen, zumeist zum Ausfall eines oder mehrerer Beiträge, wobei hier grundsätzlich weniger aktuelle Berichte, also meist Reportagen aus dem Gebiet der Kunst oder Wissenschaft, einer Streichung zum Opfer fielen, welche jedoch oft zu einem späteren Sendetermin, d. h. in einer späteren Ö1-Journalsendung, nachgeholt wurden.

Der Aufbau aller drei Journalsendungen verläuft nach einem Grundschema, welches sich im Projektzeitraum nicht wesentlich verändert hat. Nach der Kennmelodie erfolgt ein kurzer Sendungsüberblick durch den/die jeweiligen/e Moderator/in. Im Laufe der Jahre gab es vier verschiedene Kennmelodien. Vom 2. Oktober 1967 bis zu einem momentan nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt zwischen dem November 1971 und dem Mai 1976, war eine für die 60er Jahre typische, sehr hektische und Rhythmus betonte Schlagzeug- und Bläserpassage mit Telefonklingel in Verwendung (Audioquelle 1). Die ab dem 3. Mai 1976 belegte neue Signation ist eine nicht ganz so gehetzte, ja beinahe jazzige, auf der Hammond-Orgel gespielte Melodie (Audioquelle 2). Am 18. April 1977 hielt schließlich klassische Musik Einzug in den Ö1-Journalsendungen, zumindest soweit es die Kennmelodie betraf und abgesehen von Ausschnitten in Kulturbeiträgen und mancher Musikeinblendung. Die ersten Takte aus Schuberts 5 Deutsche Tänze D 90 wurden zu einem unverkennbaren auditiven Fixpunkt im Tagesablauf vieler österreichischer Radiohörer (Audioquelle 3). Erneut verändert wurde die Signation am 19. September 1994, sie stammt vom österreichischen Komponisten Werner Pirchner (Audioquelle 4).

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Audioquelle 4

Die 1990er – Eine Komposition von Werner Pirchner
Die vierte und aktuelle Kennmelodie des Mittagsjournals

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Audioquelle 1

Die hektischen 1960er
Die erste Kennmelodie des Mittagsjournals

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Audioquelle 2

Die 1970er mit neuem Sound
Die zweite Kennmelodie des Mittagsjournals

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Audioquelle 3

Die klassischen 1980er – Schuberts Deutscher Tanz
Die dritte Kennmelodie des Mittagsjournals

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Im Anschluss an den Überblick folgen die ausführlichen Nachrichten und der Wetterbericht. Nachrichten und Wetterbericht haben im Ö1-Mittagsjournal eine Sendedauer von zusammen etwa 10 Minuten.

Danach folgen die einzelnen Beiträge, welche durch eine An- und Abmoderation verbunden sind. Wie ausführlich diese Moderationen jeweils ausgefallen sind, hängt von den einzelnen Moderatoren ab. Sie reichen von einem einzelnen Satz zur Überleitung zum nächsten Beitrag bis hin zu ergänzenden Bemerkungen. Längere Moderationen als maximal eine Minute sind aber nicht die Regel. Von der inhaltlichen Gliederung soll hier nur auf die sich wiederholenden, also die schematischen Fixpunkte eingegangen werden. Grundsätzlich bilden Innen- und Außenpolitik in unterschiedlicher Abfolge und Gewichtung, je nach aktueller tagespolitischer Lage, den Hauptbestandteil aller Ö1-Journalsendungen. Ein fixer Bestandteil war die Inlandspresseschau, welche fast ausnahmslos in jedem Ö1-Mittagsjournal vorkam, zu Beginn der 1990er Jahre aber verschwand. Abschluss und Ergänzung bilden Beiträge aus Kunst und Kultur. Sport oder Chronik kommen in den Ö1-Journalsendungen des Projektzeitraumes, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, nicht vor. In den 1990ern ist eine schwerpunktmäßige Zunahme der Berichterstattung zugunsten der Themenfelder Wirtschaft und Wissenschaft in den Beiträgen zu beobachten, obwohl Themenbeiträge aus Innen- und Außenpolitik nach wie vor dominieren.

In den 1960ern bis Ende der 1980er umfassten die Journalsendungen in der Regel acht bis elf Beiträge. In Ausnahmefällen lag die Bandbreite deutlich darüber oder darunter, wie etwa bei fünf Beiträgen für das Mittagsjournal vom 22. März 1982 oder 17 Beiträgen für dasjenige vom 19. September 1989.

Im Laufe der 1990er Jahre ist eine deutliche Steigerung der Beitragsanzahl zu beobachten: nun lag die Anzahl etwa bei 13 bis 18 oder mehr Beiträgen. Dies führte gleichzeitig dazu, dass die Beiträge, dem Zeitgeist entsprechend, kürzer und clipartiger wurden. Je nach Nachrichtenlage konnte die Beitragslänge variieren und so belief sich beispielsweise zu Beginn des Krieges in Slowenien im Sommer 1991 ein Mittagsjournal auf 25 Beiträge. Sie vermittelten nun das Gefühl, dass sich auch das Sprechtempo der Moderatoren und gestaltenden Redakteure beschleunigt hatte, wobei dies hier technisch nicht belegt werden kann ebenso wenig wie die objektive Ursache, welche womöglich aber ebenfalls dem clipartigen, beschleunigten Zeitgeist geschuldet war. Dazu kam, dass sich auch die Anzahl der O‑Töne in den Beiträgen selbst erhöhte, obwohl diese kürzer wurden.

Neben dem herkömmlichen Beitrag mit oder ohne O‑Tönen, worunter auch die Reportage oder das Feature fällt, gibt es in den Mittagsjournalen auch noch die Beitragsarten Interview, in dem der gestaltende Redakteur (Interviewer) eine Person im Zwiegespräch direkt befragt, sowie Moderatorengespräch, in welchem der Moderator selbst einen zugeschalteten Interviewgast befragt.

Mit der fixen Beitragsreihe „Im Journal zu Gast“ wurde ab dem 7. Juni 1980 jeden Samstag, im Ö1-Mittagsjournal, eine Plattform für ein ausführliches Interview mit den unterschiedlichsten Personen geschaffen (Audioquelle 5).
Die Dauer des Gespräches lag nie unter 10 Minuten, in einzelnen Fällen wurden aber auch Beiträge mit einer Länge von bis zu 20 Minuten ausgestrahlt. Die Mehrzahl der Interviewten kam dabei aus der Politik, aber es gab auch eine Vielzahl von Persönlichkeiten aus Sport, Wissenschaft, Kunst, Kultur und der Geschäftswelt, die vor das Mikrophon gebeten wurden. Diese Beitragsreihe beschränkte sich nicht auf Menschen aus Österreich, auch viele ausländische Persönlichkeiten, hier lag aber der Schwerpunkt verständlicherweise im deutschsprachigen Raum, waren „Im Journal zu Gast“. Der größte Teil der Interviews wurde von Rudolf Nagiller geführt, der es verstand, neben Fragen mit aktuellem Bezug, auch Fragen mit Tiefgang zur Person, deren Werdegang und Denken, zu stellen. Ab den 1990er Jahren variierten allerdings die Interviewer je nach dem mit dem Interviewten verbundenen Themenspektrum. Besonders interessant waren zweifellos diejenigen Gäste, die als Zeugen zu Ereignissen der österreichischen Zeitgeschichte befragt wurden, was besonders auf das „Gedenk-Jahr“ 1995 und die Reihe „Zeitzeugen“ zutrifft, die Österreicher unterschiedlichen Bekanntheitsgrades und politischen Spektrums über ihre Erinnerungen zum Kriegsende 1945 zu Wort kommen ließ (Beispiel im Mittagsjournal vom 10. April 1995).

00:00:46 (00:32:43 bis 00:33:30) audio
Audioquelle 5

Mittagsjournal vom 7. Juni 1980
Ankündigung für das erste „Im Journal zu Gast“

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Neben dieser Interview-Reihe mit Tiefgang wurde ab dem 14. Mai 1984, von Montag bis Freitag, im Abendjournal das „Journal-Panorama“ mit einer Sendedauer von einer halben Stunde eingeführt (Audioquelle 6) und sei ob ihres großes quellenrelevanten Wertes erwähnt. Das Abendjournal wurde dadurch auf eine dreiviertel Stunde Sendedauer verlängert. Das „Journal-Panorama“ bildete eine Sendereihe, die sich der inhaltlichen Vertiefung verpflichtet hatte. Dabei wurden Reportagen, Interviews und Studiokonfrontationen, aber auch ausführliche Inlands- und Auslandspresseschauen zu einem bestimmten Thema gebündelt oder Zusammenfassungen von wichtigen Referaten und Vorträgen zu bestimmten Gebieten gesendet. 

00:59:45 (00:11:59 bis 00:13:19) audio
Audioquelle 6

Mittagsjournal vom 14. Mai 1984
Ankündigung der Sendereihe „Journal-Panorama“

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Sowohl die Mittagsjournale als auch das Journal-Panorama haben eine Vielzahl von wichtigen Tondokumenten hervorgebracht, aus Gründen des Projektschwerpunktes auf das Ö1-Mittagsjournal fand aber nur „Im Journal zu Gast“ komplett Eingang in die Online-Präsentation. Die digitalisierten „Journal-Panorama“-Beiträge dienen der inhaltlichen Ergänzung der Ö1-Mittagsjournale zu bestimmten Themen. Auch hier ruht, wie in so vielen anderen Bereichen des Archivbestandes der Österreichischen Mediathek, manch ein Schatz, der auf seine Hebung wartet.

9. Literatur

Verwendete Literatur:

Doris Bachmann-Medick. Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften. Hamburg 2006.

Michael T. Clanchy, From Memory to Written Record: England, 1066–1307, Cambridge, Mass., 1979.

Alain Corbin, Identity Bells and the Nineteenth Century France, in: Mark M. Smith, Hearing History, A Reader. Athens, Georgia, 2004. S. 184–206

Veit Erlmann, But what of the Ethnographic Ear? Anthropology, Sound, and the Senses, in: Erlmann [Hg.], Hearing Cultures, Essays on Sound Listening and Modernity. S. 1–20.

Gabriele Fröschl; Rainer Hubert; Mit Audio-Quellen arbeiten. Überlegungen zur Einbindung von „Tönen“ in die historischen Wissenschaften, in: Ingrid Böhler; Eva Pfanzelter; Thomas Spielbüchler; Rolf Steininger [Hg.] 7. Österreichischer Zeitgeschichtetag 2008. 1968 – Vorgeschichten – Folgen – Bestandsaufnahmen der österreichischen Zeitgeschichte. Innsbruck 2010. S. 603–611.

Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 2003.

Greg Goodale, Sonic Persuasion. Reading Sound in the Recorded Age. Chicago 2011.

Wolfgang Hagen, Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland/USA, München 2005.

Eric A. Havelock, Als die Muse schreiben lernte. Berlin 2007.

Anton Hubauer, Im Wandel der Zeit Veränderungen bei Ö1-Journalsendungen, S. 1–5., unter: www.mediathek.at/downloadplatform/file/source/1159685.

Rainer Hubert; Gerhard Jagschitz; Zur Methodik historischer Tondokumentation. 1. Teil, in: Das Schallarchiv. Informationsblatt der Arbeitsgemeinschaft österreichischer Schallarchive, Nr. 1, April 1977, S. 15–46.

Rainer Hubert, Überlegungen zu den strukturellen Unterschieden von Print- und Audiovisuellen Medien, in: Das Schallarchiv. Informationsblatt der Arbeitsgemeinschaft österreichischer Schallarchive, Nr. 7, April 1980, S. 32–52.

Oliver Jungen: Erregerphantasien: Eine sentimentale Schneise im frühen Radiodiskurs, in: Frank Bösch, Die Massen bewegen. Frankfurt am Main 2006, S. 307–324.

Marshall McLuhan, Understanding Radio, in: David Crowley, Paul Heyer [Hg.], Communication in History. New York, 1999, S. 251–257.

Walter J. Ong, Oralität und Literalität, Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987.

Walter J. Ong, Orality, Literacy and Modern Media, in: Crowley [Hg.], Communication in History, S. 60–67.

William Scott, Documenting Radio, in: ibidem, S. 235–245.

Bruce R. Smith, Listening to the Wild Blue Yoder, The Challenges of Accoustic Ecology, in: Gustavus Stadler, Never heard Such a Thing: Lynching and Phonographic Modernity, in: Ders. [Hg.], The Politics of Recorded Sound. Special Issue of Social Text 102, Vol 28, No. 1, New York. Spring 2010, S. 87–106.

Michael Stolle, Emotionale Wiedervereinigung: Das Radio und die Heimkehr der Kriegsgefangenen in die BRD, in: Frank Bösch, Die Massen bewegen. Frankfurt am Main 2006, S. 325–343.

Verwendetes AV-Material (mit Archiv-Signaturnummern der Österreichischen Mediathek):

Mittagsjournal, 2. Oktober 1967, JM-671002
Mittagsjournal, 3. Mai 1976, JM-760503
Mittagsjournal, 18. April 1977, JM-770418
Mittagsjournal, 7. Juni 1980, JM-800607
Mittagsjournal, 22. März 1982, JM-820322
Mittagsjournal, 14. Mai 1984, JM-840514
Mittagsjournal, 19. September 1989, JM-890919
Mittagsjournal, 28. Juni 1991, JM-910628
Mittagsjournal, 19. September 1994, JM-940919
Mittagsjournal, 10. April 1995, JM-950410  

(Publiziert: 2013)