Die Nationalratswahlkämpfe der Jahre 1990, 1994 und 1995 als Spiegelbild des Wandels in Politik und medialer Berichterstattung

Eine Bestandsaufnahme

von Stephan Grundei

14. Die Folgen des 7. Oktobers 1990

Der überraschende Wahlausgang der Nationalratswahlen vom 7. Oktober 1990 stand im Mittelpunkt der Wahlberichterstattung des Folgetages. Die ÖVP verlor 9,2 Prozent ihrer Stimmen gegenüber der Wahl 1986 und fiel auf 32,2 Prozent (Audioquelle 42, Mittagsjournal vom 8. Oktober 1990). Das vorausgesagte Kopf-an-Kopf-Rennen um den ersten Platz mit der SPÖ fand in keiner Weise statt, dementsprechend standen auch die Meinungsforscher unter schwerer Kritik. Der ÖVP-Parteivorstand hatte noch nicht getagt. Die verschiedensten Stimmen aus der ÖVP zeigten Uneinigkeit, wie man mit dieser herben Niederlage umgehen sollte. Man rang um eine gemeinsame Linie des zukünftigen Vorgehens, sowohl die Opposition als auch eine kleine bzw. große Regierungskoalition wurden als Möglichkeiten genannt. Speziell in Wien erlitt die ÖVP eine vernichtende Niederlage. In fünf Bezirken konnte man nur die drittmeisten Stimmen erringen. Die FPÖ und die Grünen konnten in Wien stark zulegen.

00:04:03 audio
Audioquelle 42

aus dem Mittagsjournal vom 8. Oktober 1990
NR-Wahlen: Situation der ÖVP

Details

Die Grünen konnten wie bei der letzten Wahl 1986 4,8 Prozent erringen. Damit blieb man hinter den Erwartungen zurück. Dr Bundesgeschäftsführer der Grünen Alternative, Johannes Voggenhuber, sah die Erwartungshaltung im Vorfeld als zu hoch an und führte das enttäuschende Ergebnis auf die intensiv geführte Koalitionsdebatte im Wahlkampf zurück. Viele potentielle Grünwähler hätten demnach aus Angst vor einer schwarz-blauen Koalition die SPÖ gewählt. Das getrennte Antreten der VGÖ dürfte ebenfalls zu einem Stimmenverlust für die Grüne Alternative geführt haben. Das Experiment mit vier Spitzenkandidaten dürfte die Wahlchancen zusätzlich verringert haben.

Die FPÖ war der große Wahlsieger und konnte 16,6 Prozent der Stimmen erringen. Dies entsprach einem Plus von 6,9 Prozent zu den vorangegangenen Wahlen. Dementsprechend groß war das Medieninteresse bei der Pressekonferenz nach der Parteivorstandssitzung. Haider sah dabei keine Veranlassung, seine Politik im Geringsten zu ändern und ging von einer Legislaturperiode in einer gestärkten Oppositionsrolle aus.

Die SPÖ konnte 42,8 Prozent erreichen und musste damit lediglich ein minimales Minus von 0,3 Prozent hinnehmen. Vranitzky sprach von einem großen Tag für die Sozialdemokratie. Die Gründe für den Erfolg der Partei wähnte Vranitzky in der klaren Parteilinie bei den jüngsten Skandalen innerhalb der SPÖ, dem sachlichen Wahlkampf der SPÖ und der besseren Werbelinie. Seiner Meinung nach war sein persönlicher Vorzugsstimmenwahlkampf keinesfalls eine Wählertäuschung. Der Einfluss des Vorzugsstimmenwahlsystems bei den Nationalratswahlen war nicht zu unterschätzen. In einer eigenen Analyse wurde auf die neue Handhabung dieses demokratischen Instruments eingegangen.

Wahlergebnis vom 7. Oktober 1990
Wahlergebnis vom 7. Oktober 1990

15. Die Folgen des ÖVP-Wahldebakels

Bereits zwei Tage nach der Nationalratswahl am 9. Oktober 1990 verringerte sich die innenpolitische Berichterstattung beträchtlich. Hauptthema war die Situation der kriselnden ÖVP nach dem Debakel bei den Wahlen. Vizekanzler Riegler berichtete von der Parteivorstandssitzung. Die ÖVP hatte sich demnach für die Aufnahme von Regierungsverhandlungen mit der SPÖ entschlossen. Ein Verhandlungsteam wurde aus aktuellen Regierungsmitgliedern, Landeshauptleuten und Wirtschafts- bzw. Landwirtschaftsvertretern zusammengestellt. Riegler schätzte einen Abschluss der Verhandlungen innerhalb von zwei Monaten als realistisch ein. Dafür hatte die ÖVP einen breiten Forderungskatalog zusammengestellt. Im Ministerrat hatte die bisherige Bundesregierung per Brief an den Bundespräsidenten offiziell um ihre Demissionierung gebeten. Anschließend stellte sich Bundeskanzler Vranitzky den Journalisten und teilte seine Vorstellungen bezüglich Verhandlungen zu einer künftigen Regierung mit. Vranitzky sprach sich dafür aus, zunächst Themen auszuarbeiten. Für Vranitzky war die parteiliche Unabhängigkeit keine Grundvoraussetzung für einen künftigen Justizminister (Audioquelle 43, Mittagsjournal vom 9. Oktober 1990). Eine Auslandspresseschau beschäftigte sich mit dem Wahlausgang und speziell mit dem Aufstieg des FPÖ-Obmanns Jörg Haider bzw. der herben Niederlage der ÖVP. Das gute Wahlergebnis der SPÖ wurde international auf die Person des Kanzlers Vranitzky zurückgeführt.

00:04:08 audio
Audioquelle 43

aus dem Mittagsjournal vom 9. Oktober 1990
Ministerratssitzung: Regierungsverhandlungen

Details

Bereits drei Tage nach den Wahlen war die Parteipolitik gänzlich aus dem Mittagsjournal verschwunden. Die Regierungsspitzen waren in repräsentativer Tätigkeit bei einer Jubiläumsfeier zum 70. Jahrestag der Volksabstimmung in Kärnten. Interessensvertretungen nutzten die Nachwahlzeit, um Forderungen gegenüber einer künftigen Bundesregierung zu formulieren. So präsentierte etwa ÖGB-Präsident Fritz Verzetnitsch ein 20-seitiges Memorandum zum Thema „Was die Arbeitnehmer erwarten“. Die Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften, die Pensionsreform und die Arbeitszeitverkürzung nahmen dabei Schwerpunkte ein (Audioquelle 44, Mittagsjournal vom 10. Oktober 1990).

00:04:45 audio
Audioquelle 44

aus dem Mittagsjournal vom 10. Oktober 1990
ÖGB-Forderungen an die künftige Regierung

Details

Die Situation der ÖVP war weiterhin das innenpolitische Hauptthema nach der Wahl. Wirtschaftsminister Schüssel nahm dazu Stellung und sprach sich für eine Stärkung des ÖVP-Chefverhandlers Riegler aus. Außerdem forderte er eine Umsetzung des Wählerwillens in Form einer Fortsetzung der großen Koalition mit der SPÖ, wobei eine Berücksichtigung der ÖVP-Themen Grundvoraussetzung sein müsste. Er wollte zunächst über Inhalte verhandeln und nicht über Ressorts. Dabei kritisierte er Vranitzky, der sich bezüglich der Parteilosigkeit des Justizministers geäußert hatte. Er selbst konnte sich eine Fortsetzung seiner bisherigen Tätigkeit als Wirtschaftsminister sehr gut vorstellen (Audioquelle 45, Mittagsjournal vom 11. Oktober 1990).

00:03:59 audio
Audioquelle 45

aus dem Mittagsjournal vom 11. Oktober 1990
Wirtschaftsminister Schüssel zu den ÖVP-Querelen

Details

Am 12. Oktober waren die Veränderungen im Nationalrat Gegenstand der Berichterstattung im innenpolitischen Block des Mittagsjournals. Die Parteien mussten ihre personellen Vertretungen in den Ausschüssen des Nationalrats fixieren. Weiters wurden die Kandidaten für die Wahlen zum Nationalratspräsidenten festgelegt. Die Ungewissheit über eine Regierungszugehörigkeit machte die personellen Entscheidungen bei den Großparteien kompliziert. Eine Analyse der Vorzugsstimmenwahlkämpfe war ebenfalls Thema. Speziell Bundeskanzler Vranitzky konnte stark davon profitieren. SP-Zentralsekretär Cap sah darin einen großen Zuspruch für Vranitzky und den Erneuerungs- und Reformprozess innerhalb der Partei. ÖVP-Obmann Riegler wertete einstweilen den Anspruch der SPÖ auf den Posten des Justizministers als Kampfansage. Er sprach sich erneut klar für einen parteilosen Justizminister aus. Den Vorzugsstimmenwahlkampf von Vranitzky wertete Riegler weiterhin äußerst kritisch. (Audioquelle 46, Mittagsjournal vom 12. Oktober 1990)

00:05:30 audio
Audioquelle 46

aus dem Mittagsjournal vom 12. Oktober 1990
Veränderungen im Nationalrat

Details

Ein Verhandlungstermin für eine etwaige SPÖ-ÖVP-Koalition wurde für 17. Oktober festgelegt. Bereits am 15. Oktober sollten erste Themenlisten zwischen den Parteien ausgetauscht werden. Die Dauer der Koalitionsverhandlungen war nicht absehbar, aber laut Bundeskanzler Vranitzky sollte sich die Koalition bis Weihnachten bilden und er bezeichnete das SPÖ-Koalitionspapier als Verhandlungskatalog. Bundespräsident Waldheim hatte einstweilen seine Präferenz für eine große Koalition signalisiert. (Audioquelle 47, Mittagsjournal vom 15. Oktober 1990)

00:02:29 audio
Audioquelle 47

aus dem Mittagsjournal vom 15. Oktober 1990
Pressekonferenz: Vranitzky zu Koalitionsgesprächen

Details

Im Ministerrat am 16. Oktober stand der direkt bevorstehende Beginn von Koalitionsverhandlungen zwischen SPÖ und ÖVP im Mittelpunkt. ÖVP-Obmann Riegler informierte bereits vor dem Ministerrat in Form seiner traditionellen Morgeninformation über die ÖVP-Verhandlungspositionen, wie eine Steuersenkung für Arbeitnehmer und Betriebe, die Beibehaltung der Budgetkonsolidierung, eine Bildungs- und Forschungsoffensive, eine Sozialversicherungsreform, mehr Maßnahmen für den Umweltschutz und Reformen in Richtung Persönlichkeitswahlrecht. Vranitzky bezog im Anschluss an den Ministerrat Stellung und zeigte sich vorsichtig optimistisch für die bevorstehenden Verhandlungen. Die Nationalbankpräsidentin und ehemalige ÖVP-Politikerin Maria Schaumayer sprach sich klar für eine große Koalition aus. Nicht zuletzt wegen der EU-Beitrittsverhandlungen sah sie dies als notwendig an. Bei der Budgetpolitik erwartete sie sich eine finanzpolitische Stabilitätspolitik. Der Spitzenkandidat der FPÖ, Gugerbauer, hatte sich negativ über FPÖ-Obmann Haider geäußert. Er warf ihm vor, durch die Neutralitätsdebatte und die Diskussionen über eine mögliche Kanzlerschaft falsch taktiert zu haben. (Audioquelle 48, Mittagsjournal vom 16. Oktober 1990)

00:02:39 audio
Audioquelle 48

aus dem Mittagsjournal vom 16. Oktober 1990
Gugerbauer über Wahlausgang und Koalition

Details

16. Regierungsverhandlungen – Erneute Weichenstellung für Rot-Schwarz

Bezüglich der beginnenden Koalitionsverhandlungen gingen die Einschätzungen zwischen SPÖ-Kanzler Vranitzky und VP-Obmann Riegler auseinander. Vranitzky sah die Vorstellungen der beiden Parteien auf Grund der vorliegenden Positionspapiere als sehr nahe an, wohingegen Riegler von großen inhaltlichen Differenzen sprach. Eine gemeinsame Stellungnahme der beiden Parteichefs signalisierte jedenfalls Produktivität bei den Verhandlungen. (Audioquelle 49, Mittagsjournal vom 17. Oktober 1990)

00:04:31 audio
Audioquelle 49

aus dem Mittagsjournal vom 17. Oktober 1990
Beginn der Koalitionsverhandlungen SPÖ–ÖVP

Details

Am 18. Oktober konnte sich eine Kleinstpartei wieder zu Wort melden. Bei der KPÖ trat nach dem schwachen Abschneiden bei den Nationalratswahlen das Zentralkomitee zusammen. Dort konnte sich der Parteivorsitzende Walter Silbermayr mit seinen Reformvorschlägen nicht durchsetzen. Die KPÖ-Zeitung „Volksstimme“ werde nunmehr nur mehr im Wochenrhythmus publiziert (Audioquelle 50, Mittagsjournal vom 18. Oktober 1990). Die ÖVP-Parteispitze fand sich nach der ersten Runde der Regierungsverhandlungen zu einem Parteivorstand zusammen. ÖVP-Obmann Riegler bezog Stellung zu den Parteireformvorhaben. Er setzte sich grundsätzlich für einen Fortbestand der Bünde ein. Dennoch sollte die ÖVP den Bürgern ein neues politisches Angebot machen. Für Riegler lag die Verantwortung für die angekündigte Parteireform bei ihm und er versprach sich voll zu engagieren. Auf Seiten der SPÖ musste Innenminister Löschnak eine negative Entwicklung der Kriminalstatistik verlautbaren. Er verlangte in einem Forderungskatalog mehr Personal und mehr Geld.

00:02:41 audio
Audioquelle 50

aus dem Mittagsjournal vom 18. Oktober 1990
KPÖ-Zentralorgan „Volksstimme“ wird Wochenzeitung

Details

Am 19. Oktober verdrängte die Tagespolitik wieder den Wahlkampf bzw. die Folgen der Nationalratswahl. Die ÖVP-Minister Schüssel und Fischler thematisierten die Konsequenzen der GATT-Runde für die Bauern und der SPÖ-Verkehrsminister Streicher sprach vom aufkeimenden Transitkonflikt mit Italien. Bei der FPÖ begann die Klubklausur der Abgeordneten in Kärnten. In einer Stellungnahme von FPÖ-Obmann Haider wurde die Gemeinsamkeit innerhalb der FPÖ betont, selbst wenn es zu unterschiedlichen Meinungen zwischen Obmann Haider, Spitzenkandidat Gugerbauer und der 3. Generalsekretärin Heide Schmidt gekommen sein sollte. (Audioquelle 51, Mittagsjournal vom 19. Oktober 1990)

00:02:22 audio
Audioquelle 51

aus dem Mittagsjournal vom 19. Oktober 1990
FPÖ-Klubklausur am Weißensee

Details

Am letzten Tag des Untersuchungszeitraums stand der Transitkonflikt zwischen Österreich und Italien endgültig im Mittelpunkt der medialen Berichterstattung. Die Brennerautobahn war für den gesamten Verkehr gesperrt. Die SPÖ-Minister Streicher und Löschnak, sowie der VP-Landeshauptmann Alois Partl bezogen Stellung. Der Wahlkampf bzw. die Regierungsverhandlungen spielten keine Rolle mehr.

17. Wahlberichterstattung im Journal-Panorama 1990

Die Sendung Journal-Panorama ist eine ausführliche Reportage im Rahmen der Ö1-Nachrichtensendung Abendjournal. Im Zusammenhang mit der Nationalratswahl 1990 wurde der Wahlkampf zweimal Gegenstand einer solchen Reportage.

In der Sendung vom 12. September 1990 war das Sendungsthema der Vorzugsstimmenwahlkampf. Die erste bedeutende Vorzugstimmenkampagne wurde von Josef Cap (SPÖ) geführt und brachte ihn 1983 als Parteirebellen mit 65.000 Stimmen in den Nationalrat. Bei der Nationalratswahl 1990 versuchten Vertreter aller Parteien, den Einzug in das Parlament in ähnlicher Weise zu schaffen. Im Rahmen des Journal-Panoramas diskutierten der Klubsekretär der SPÖ, Bruno Aigner, und der JVP-Obmann, Harald Himmer, ausführlich über ihre persönlichen Vorzugsstimmenkampagnen, ihre Parteien und den aktuellen Wahlkampf. (Audioquelle 52, Abendjournal vom 12. September 1990)

00:34:52 audio
Audioquelle 52

aus dem Abendjournal vom 12. September 1990
Interviews mit Harry Himmer und Bruno Aigner

Details

Im Journal-Panorama vom 26. September 1990 diskutierten zwei Oppositionspolitiker. Der weitestgehend unbekannte freiheitliche Jugendobmann, Herbert Scheibner, und der grüne Energie- und Wirtschaftsexperte, Christoph Chorherr, versuchten ebenfalls mittels Vorzugsstimmenkampagnen den Einzug in das Parlament zu erreichen. Scheibner trat mit einem provokanten Wahlkampf in Wien in Erscheinung. Chorherr sah sich als Kämpfer gegen die Erdöl- und Automobilindustrie. (Audioquelle 53, Abendjournal vom 26. September 1990)

00:35:18 audio
Audioquelle 53

aus dem Abendjournal vom 26. September 1990
Interview mit Chorherr und Scheibner

Details

18. Eine Statistik zum Nationalratswahlkampf 1990

Auswertung der Berichterstattung im Ö1-Mittagsjournal

Häufigkeit der O-Töne von politisch klar zuordenbaren Politikern bzw. Funktionären in der Berichterstattung des Ö1-Mittagsjournals von 20. August bis 20. Oktober 1990.

 

SPÖ

ÖVP

FPÖ

Grüne

Sonstige

1. Woche
(20.8.–25.8.1990)

6

14

4

3

0

2. Woche
(27.8.–1.9.1990)

7

8

1

4

0

3. Woche
(3.9.–8.9.1990)

5

8

3

2

0

4. Woche
(10.9.–15.9.1990)

7

5

1

1

0

5. Woche
(17.9.–22.9.1990)

10

7

1

0

4

6. Woche
(24.9.–30.9.1990)

9

10

3

2

0

7. Woche
(1.10.–6.10.1990)

11

8

2

2

0

8. Woche
(8.10.–13.10.1990)

4

6

1

1

0

9. Woche
(15.10.–20.10.1990)

6

6

2

0

1