Die Nationalratswahlkämpfe der Jahre 1990, 1994 und 1995 als Spiegelbild des Wandels in Politik und medialer Berichterstattung

Eine Bestandsaufnahme

von Stephan Grundei

34. Die Nationalratswahl 1995 – Die Ausgangssituation

Das Kabinett Vranitzky IV wurde am 29. November 1994 durch Bundespräsident Thomas Klestil angelobt. Es handelte sich dabei um eine große Koalition zwischen der SPÖ und ÖVP. Die Regierung wurde angeführt von Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) und Vizekanzler Erhard Busek (ÖVP). Busek wurde in der Position als Vizekanzler am 4. Mai 1995 durch Wolfgang Schüssel (ÖVP) ersetzt. Am 12. Oktober 1995 scheiterten die Budgetverhandlungen der Regierung mit der Konsequenz vorgezogener Neuwahlen.

Am 17. Dezember 1995 fand die Wahl zum Nationalrat statt. Am 18. Dezember kam es zur Demissionierung der Regierung Vranitzky IV durch Bundespräsident Klestil. Die Regierung bestand ursprünglich aus 13 Ministern und vier Ministerinnen sowie fünf Staatssekretären und einer Staatssekretärin. Im Laufe der Amtsperiode wurde die Regierung zehn Mal umgebildet. Die Regierung bestand aus jeweils acht Ministern und drei Staatssekretären/innen pro Regierungspartei. Justizminister Nikolaus Michalek war parteilos.

35. Die frühe Wahlberichterstattung 1995

Der Untersuchungszeitraum für den Wahlkampf zur Nationalratswahl 1995 setzt mit dem 30. Oktober ein. Der Wahlkampf war zu diesem Zeitpunkt nicht im Mittagsjournal vertreten. Der Wirtschaftsforscher Bernhard Felderer hatte in der TV-Pressestunde massive Einsparungen im öffentlichen Dienst und im Bereich Frühpensionen eingefordert. Der zuständige SPÖ-Sozialminister Hums sprach sich klar für die Anhebung des faktischen Pensionsantrittsalters aus. Dem Vorschlag Felderers eines 30-prozentigen Abschlages bei Frühpensionen stand er skeptisch gegenüber, da dieser im Bereich der ASVG-Pensionen bereits vorhanden sei. Die ÖVP fühlte sich durch die Aussagen Felderers bestätigt. Eine ÖVP-Wahlkampfbroschüre stand unter dem Motto „Der eiserne Sparkurs“. ÖVP-Generalsekretärin Rauch-Kallat betonte, dass die ÖVP sich nie kategorisch gegen Steuererhöhungen ausgesprochen habe, und unterstrich die Bemühungen um eine ökologische Steuerreform. (Audioquelle 102, Mittagsjournal vom 30. Oktober 1995)

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Audioquelle 102

aus dem Mittagsjournal vom 30. Oktober 1995
ÖVP-Reaktion auf Einsparungsvorschläge des Wirtschaftsforschers Felderer

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Die SPÖ setzte in ihrer Wahlkampfkommunikation auf die neuesten Trends aus den USA. Bei einer Präsentation der SPÖ-Wahlkampfzentrale in der Löwelstraße ging Bundesgeschäftsführerin Brigitte Ederer auf die Wahlkampfstrategien der Partei ein. Das Büro sollte verunsicherten Wählern mit einer Infohotline Auskunft geben und als Schnittstelle für SPÖ-Funktionäre und freiwillige Mitarbeiter zur Verfügung stehen. (Audioquelle 103, Mittagsjournal vom 31. Oktober 1995)

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Audioquelle 103

aus dem Mittagsjournal vom 31. Oktober 1995
SPÖ-Wahlkampfbüro

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Mit Anfang November kam dann der Wahlkampf voll in Schwung. SPÖ-Finanzsprecher Ewald Nowotny kritisierte konkret das Sparkonzept der ÖVP. Er sah einnahmenseitig ausschließlich Belastungen für die Arbeitnehmer. Die Einsparungen auf der Ausgabenseite betrugen laut Nowotny nur 5 Milliarden Schilling. Die Freiheitlichen begannen in den nächsten Tagen ihren Wahlkampf mit Großveranstaltungen. FPÖ-Obmann Haider wollte in jedem Wahlbezirk persönlich auftreten. Ob sich die Partei im Wahlkampf als Oppositionspartei oder künftige Regierungspartei positionieren sollte, war dabei parteiintern umstritten. FPÖ-Sprecher Walter Meischberger sprach sich dafür aus, möglichst viele Stimmen zu erringen und sich klar als künftige Oppositionspartei zu positionieren. Dies war eine Konsequenz der sogenannten  Ausgrenzungspolitik der anderen Parteien gegenüber der FPÖ. Die Grünen wollten mit einem Team an Kandidaten bei der Wahl mindestens 10 Prozent der Stimmen erringen. Spitzenkandidatin Madeleine Petrovic wurde dabei intensiv von Monika Langthaler, Terezija Stoisits, Karl Öllinger, Alexander van der Bellen und Johannes Voggenhuber unterstützt. Petrovic sah in den Wahlen eine Richtungsentscheidung, ob Österreich weiterhin in Richtung Rechtspopulismus absacke. (Audioquelle 104, Mittagsjournal vom 2. November 1995) Der Gesundheitssprecher der ÖVP, Erwin Rasinger, regte in einem Interview derweil eine neue Form der Kontrolle in den Krankenhäusern an. Anlassfall war eine Fehloperation im Wiener AKH. Pensionierte Primarärzte sollten dabei eine Kontrollfunktion einnehmen.

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Audioquelle 104

aus dem Mittagsjournal vom 2. November 1995
SP-Wirtschaftssprecher kritisiert ÖVP-Sparprogramm / Interne Unstimmigkeiten über FPÖ-Wahlkampflinie / Wahlziele der Grünen

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36. Agrarförderung versus Rasterfahndung

ÖVP-Landwirtschaftsminister Wilhelm Molterer demonstrierte fachliche Kompetenz in der Diskussion um Naturwaldreservate in Österreich. Er erklärte den Vorgang rund um die Klassifizierung des Waldes in Österreich. Ein anderer Bericht beschäftigte sich mit der kommenden Sondersitzung im Nationalrat. Zwischen SPÖ und ÖVP gab es einen Zwist um die Agrarförderungen der Bauern. ÖVP-Klubobmann Andreas Khol war die Lösung der Frage der Umweltförderung für die Bauern aus EU- bzw. österreichischen Mitteln von äußerst großer Bedeutung, da sie direkt eine Kernklientel der ÖVP betraf. Er verknüpfte einen Kompromiss in dieser Frage direkt mit Kompromissen in andern politischen Materien. SPÖ-Klubobmann Peter Kostelka vermutete darin eine Vorbereitung für ein gemeinsames Abstimmungsverhalten von ÖVP und FPÖ. Kostelka sprach der ÖVP deswegen den guten Willen zu einem sachlich-vernünftigen Kompromiss ab. Das Liberale Forum kritisierte die rasche Einführung von Rasterfahndung und Lauschangriff als Ermittlungsmethoden. Die Bundesprecherin des Liberalen Forums, Heide Schmidt, ortete darin einen Eingriff in die Grundrechte. Der grüne Sicherheitssprecher Rudi Anschober erkannte in dem ÖVP-Versuch, die Rasterfahndung rasch einzuführen, einen deutlichen Schritt der ÖVP in Richtung Populismus. (Audioquelle 105, Mittagsjournal vom 3. November 1995)

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Audioquelle 105

aus dem Mittagsjournal vom 3. November 1995
Streit um Lauschangriff und Rasterfahndung bzw. Agrarförderung

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Am 4. November gehörte die innenpolitische Berichterstattung ganz der Opposition. Beim grünen Bundeskongress sollte die Kandidatenliste für die Nationalratswahl festgelegt werden. Spitzenkandidatin Petrovic formulierte ihre politischen Prioritäten. Neben der Demokratiereform und einer Sicherheitspolitik wollte man bei der Umverteilung einen Schwerpunkt setzen (Audioquelle 106, Mittagsjournal vom 4. November 1995, JM‑951104_b01).

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Audioquelle 106

aus dem Mittagsjournal vom 4. November 1995
Bundeskongress der Grünen

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Im Mittagsjournal wurde eine Interviewreihe zur Nationalratswahl begonnen. Dabei wurden die Wirtschaftssprecher der Parteien für ein ausführliches Interview im „Journal zu Gast“ geladen. Den Anfang machte der Wirtschaftssprecher des Liberalen Forums, Helmut Peter. Er sprach über die Zukunftsperspektive des Liberalen Forums, zur Wirtschaftskompetenz der Partei, über den Zweck der Wirtschaft aus einem liberalen Blickwinkel, zum Pensionsantrittsalter, zur Gesundheitspolitik und über mögliche Steuererhöhungen. (Audioquelle 107, Mittagsjournal vom 4. November 1995, JM‑951104_ b02)

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Audioquelle 107

aus dem Mittagsjournal vom 4. November 1995
Im Journal zu Gast: Helmut Peter

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Die Regierungsparteien wollten durch eine geplante Sondersitzung des Nationalrates die wichtigsten, anstehenden Projekte der Regierung durch den Nationalrat bringen. Die Schwerverkehrsabgabe, der Zivildienst und die private GSM-Lizenz sollten geregelt werden. Die im Vorhinein erzielten Einigungen in diesen Fragen hätten auf Grund der Höhe der Agrarförderungen scheitern können. Laut SPÖ-Klubobmann Kostelka stand die SPÖ zum ursprünglichen Europaabkommen mit den Bauern. Nun stellte die ÖVP aber zusätzliche Forderungen von Subventionen in der Höhe von 2,3 Milliarden Schilling. Die SPÖ war für Verhandlungen über zusätzliche, ökologische Förderungen in der Höhe von maximal 600 Millionen Schilling vom Bund bereit. Die ÖVP argumentierte, dass die Agrarförderungen den Bauern bereits versprochen waren. ÖVP-Generalsekretärin Rauch-Kallat wollte den Bauern dementsprechend im Wort bleiben. Weitere innenpolitische Reizthemen waren die Rasterfahndung und der Lauschangriff. Justizminister Michalek hatte einen neuen Gesetzesentwurf in die Begutachtung geschickt. Die ÖVP wollte einen raschen Beschluss in der kommenden Sondersitzung des Nationalrats, die SPÖ hingegen wollte eine anstehende Begutachtung abwarten. SPÖ-Klubobmann Kostelka glaubte an keine rasche Einigung und sah einen Beschluss frühestens im Frühjahr 1996 für möglich an. Der heikelste Punkt dabei war die Frage der Wahrung der Grundrechte des einzelnen Bürgers. (Audioquelle 108, Mittagsjournal vom 6. November 1995) Diese Spannungen im Vorfeld der Nationalratssitzung kann als symptomatisch für die Probleme innerhalb der vorangegangenen Regierungskoalition gesehen werden.

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Audioquelle 108

aus dem Mittagsjournal vom 6. November 1995
Streit um Agrarförderung / Diskussion um Lauschangriff

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Die Tagesordnung für die Sondersitzung des österreichischen Parlaments sollte am 7. November endgültig fixiert werden. Bis zuletzt war die Absicht der ÖVP, die gesetzlichen Bestimmungen zur Terrorbekämpfung durchzubringen, umstritten. Schlussendlich sollten Rasterfahndung und Lauschangriff nicht auf der Tagesordnung stehen. SPÖ-Klubobmann Kostelka zeigte sich glücklich mit dieser Entscheidung und sprach von einem Sieg der Vernunft. ÖVP-Klubobmann Khol sah einen Erfolg seiner Verhandlungen, weil Justizminister Michalek und Innenminister Löschnak auf Grund des Drucks der ÖVP zu einem gemeinsamen Antrag gekommen waren. Bezüglich der Agrarförderung schien sich ebenfalls ein Kompromiss zu finden, in dem ein Betrag von maximal 600 Millionen Schilling für zusätzliche Förderungen im Bereich der ökologischen Landwirtschaft frei gemacht wurde (Audioquelle 109, Mittagsjournal vom 7. November 1995). Der stellvertretende Klubobmann der FPÖ, Ewald Stadler, kündigte einstweilen öffentlich einen freiheitlichen Antrag zur Einführung des Lauschangriffes an und forderte die ÖVP auf, diesen zu unterstützen.

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Audioquelle 109

aus dem Mittagsjournal vom 7. November 1995
Tagesordnung für NR-Sondersitzung

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Am 8. November tagte in Baden bei Wien das SPÖ-Präsidium. Die SPÖ wollte sich dabei Reformen in den Bereichen Soziales, Gesundheit, Technologie und Innovation sowie öffentliche Verwaltung verschreiben. Außerdem wollte man eine Neuverteilung der Kompetenzen in einer künftigen Regierung diskutieren, damit sollte eine Reduktion der Ministerien und Staatssekretariate erreicht werden. Bundeskanzler Vranitzky sprach bei einer Pressekonferenz nach der Präsidiumssitzung seiner kompletten Regierungsmannschaft das Vertrauen aus. (Audioquelle 110, Mittagsjournal vom 8. November 1995)

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Audioquelle 110

aus dem Mittagsjournal vom 8. November 1995
SPÖ-Präsidium – Vranitzky zu künftiger Regierung

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Bundeskanzler Vranitzky meldete sich am Folgetag außenpolitisch zu Wort. Er sprach sich für eine Teilnahme Österreichs an einer UN-Mission in Bosnien aus, allerdings mahnte er, auf Grund der österreichischen Neutralität, eine genaue Überprüfung der Rolle der NATO bei diesem Einsatz ein. Die jüngste Einigung in Sachen Agrarförderung wurde weiterhin nicht von der ganzen Regierung getragen. ÖVP-Landwirtschaftsminister Molterer beurteilte den Kompromiss als Betrug der SPÖ an den österreichischen Bauern. Die Bauern kündigten für die kommende Woche eine Demonstration in Wien gegen Finanzminister Andreas Staribacher an.

37. Die Ressortfrage im Wahlkampf – Wer wird wo Minister?

Nach der Sitzung des SPÖ-Präsidiums präsentierte die SPÖ ihre Vorstellungen von der zukünftigen Ressorteinteilung in der Regierung. Ziel war es, durch die Neuverteilung der Kompetenzen eine Reduzierung der Ministerien und Staatsekretariate zu erreichen. Diese Vorschläge betrafen hauptsächlich aktuelle ÖVP-Regierungsämter. Die Staatsekretärin im Außenministerium, Benita Ferrero-Waldner, zeigte sich über den Vorschlag, ihr Staatssekretariat in Zeiten des EU-Beitritts einzusparen, äußerst verwundert. Der Plan der Umgliederung des Familienlastenausgleichsfonds in das Finanzministerium stieß bei Familienministerin Sonja Moser auf heftigen Widerstand. Sie sah darin eine Herabwürdigung der Familien durch den Bundeskanzler. (Audioquelle 111, Mittagsjournal vom 9. November 1995)

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Audioquelle 111

aus dem Mittagsjournal vom 9. November 1995
ÖVP-Reaktion auf SPÖ-Vorschlag zur Ministerienneueinteilung

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Die Spekulationen über mögliche Regierungskonstellationen nach der kommenden Nationalratswahl rissen auch am 10. November nicht ab. Der stellvertretende SPÖ-Vorsitzende und Nationalratspräsident Heinz Fischer sprach davon, dass die Oppositionsrolle kein Ziel der SPÖ sein kann. Dennoch erklärte er, dass man mit der SPÖ nicht alles machen könne. Als negative Fallbeispiele nannte er eine Pensionskürzungspolitik, den NATO-Beitritt und eine Belastung der Arbeitslosen. Ein weiterer Beitrag, direkt zur kommenden Wahl, behandelte die wichtigsten Stichtage und Bestimmungen für die Nationalratswahl. Ein innenpolitischer Zankapfel war weiterhin die von der ÖVP geforderte Agrarsubvention. Die SPÖ konnte sich selbige nur mit einer sozialen Staffelung vorstellen. SPÖ-Klubobmann Kostelka wollte eine etwaige Deckelung mit rund 300.000 bis 400.000 Schilling auf EU-Konformität prüfen lassen. Der FPÖ-Agrarsprecher Mathias Reichhold sprach davon, die Agrarsubventionen mit der ÖVP zu verhandeln. Dadurch wäre auch eine Mehrheit im Parlament ohne die SPÖ möglich geworden. (Audioquelle 112, Mittagsjournal vom 10. November 1995)

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Audioquelle 112

aus dem Mittagsjournal vom 10. November 1995
Weiter Diskussion um Agrarförderung

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Im samstäglichen Reigen der Wirtschaftssprecher der Parlamentsparteien war der Grüne Alexander van der Bellen zu Gast. Er skizzierte in einem ausführlichen Interview die Pläne der Grünen zur Budgetsanierung, sprach über Kapitalismus und Profite, das grüne Energiesteuerkonzept, das Pensionssystem, ein ökologisches Steuersystem, Anreize zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und gab eine Prognose zum grünen Wahlergebnis ab. (Audioquelle 113, Mittagsjournal vom 11. November 1995)

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Audioquelle 113

aus dem Mittagsjournal vom 11. November 1995
Im Journal zu Gast: Alexander van der Bellen

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Die Diskussion um die Agrarsubventionen hatte sich zum aktuell brisantesten Wahlkampfthema entwickelt. Die SPÖ wollte die Zuwendungen sozial gestaffelt an die Bauern auszahlen. Die ÖVP wiederum sah darin einen Bruch des Europaabkommens. In der Wiener Innenstadt waren Bauern zu einer Großdemonstration des ÖVP-Bauernbundes zusammengekommen. In einer Rede von Landwirtschaftskammerpräsident Rudolf Schwarzböck wurde den Bauern anhaltender Widerstand gegen die SPÖ-Pläne versprochen. Der SPÖ-Bundeskanzler wollte aber dennoch nicht von der SPÖ-Linie einer sozialen Staffelung der Förderung abweichen (Audioquelle 114, Mittagsjournal vom 13. November 1995).

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Audioquelle 114

aus dem Mittagsjournal vom 13. November 1995
Bauerndemonstration in Wien

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38. Sondersitzung des Nationalrates und der 8. Dezember als Einkaufstag

Am 13. November begann die letzte Sitzungswoche dieser Legislaturperiode im Nationalrat. In einer außerordentlichen Tagung wollten die Regierungsparteien einige Gesetze, die durch den unerwarteten Koalitionsbruch nicht mehr umgesetzt werden konnten, durch das Parlament bringen. Kompromisse zwischen den Regierungsfraktionen wurden bis zum Sitzungsstart verhandelt. Der Ausgang der kommenden Sitzungen war allerdings offen.

Der Wahlkampf war integrierter Bestandteil der Plenarsitzungen in der letzten Parlamentswoche vor den Nationalratswahlen 1995. Dennoch mussten einige wichtige  Beschlüsse gefasst werden. Beispielsweise musste eine Regelung über die Geschäftsöffnungszeiten am 8. Dezember beschlossen werden. Generell herrschte im Parlament ein freies Spiel der Kräfte. Die verschiedensten Mehrheiten waren die Folge. Der freiheitliche Vizeobmann, Ewald Stadler, bestätigte, dass seine Partei von den beiden Regierungsparteien heftig umworben werde. Bei einer Pressekonferenz wollte er damit das offizielle, öffentliche „Ausgrenzen“ der SPÖ und ÖVP gegenüber den Freiheitlichen in Frage stellen. Der Budgetausschuss hatte seine Beratungen über den ÖVP-Antrag zur Agrarumweltförderung beendet. Mit den Stimmen von ÖVP, Grünen, und Freiheitlichen wurde die Auszahlung der Agrarumweltförderung ohne Einschränkung beschlossen. Nach dem Ministerrat bezog der SPÖ-Bundeskanzler Stellung zur der offenen Frage des Zivildienstes. Er verwies auf das Parlament und den tagenden Innenausschuss. Eine bereits vorhandene Regierungsvorlage wurde von Jugendorganisationen und Betroffenen abgelehnt. Die aktuelle provisorische Zivildienstregelung sollte, laut Vranitzky, notfalls verlängert werden, um in der nächsten Legislaturperiode in Ruhe Beratungen anschließen zu können (Audioquelle 115, Mittagsjournal vom 14. November 1995). Wirtschaftsminister Johannes Ditz präsentierte in einem Interview ein neues Verfahren zur Anpassung des Strompreises.

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Audioquelle 115

aus dem Mittagsjournal vom 14. November 1995
Ministerrat: Vranitzky zu Zivildienst

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Im Parlamentsausschuss hatte die ÖVP gemeinsam mit den Freiheitlichen und den Liberalen eine Regelung zum Offenhalten der Geschäfte am 8. Dezember beschlossen. Die Gewerkschaft der Privatangestellten bzw. ihr Vorsitzender, Hans Sallmutter, reagierte empört und sprach von einem großen Wort- und Vertragsbruch, weil die kollektivvertraglichen Bestimmungen in der beschlossenen Regelung nicht mehr auftauchten. Wirtschaftskammersekretär Günter Stummvoll setzte sich gegen die Vorwürfe von Sallmutter zur Wehr. Er sah den ursprünglichen Wortbruch in der Frage Agrarsubventionen, begangen von der SPÖ. Die Frage der Öffnungszeiten am 8. Dezember stand im Mittelpunkt einer aktuellen Stunde des Liberalen Forums im Nationalrat. Der Obfrau des Liberalen Forums, Heide Schmidt, ging die aktuelle Liberalisierung nicht weit genug. Sie kritisierte die ÖVP für deren zögerliche Haltung. Wirtschaftsminister Ditz verteidigte die Regelung zum 8. Dezember gegenüber der SPÖ. Eine kollektivvertragliche Regelung sah er nicht als notwendig an. Ein empörter ÖGB-Präsident Verzetnitsch forderte von Ditz ein Bekenntnis zum Kollektivvertrag und damit zur Sozialpartnerschaft. Der freiheitliche Abgeordnete Helmut Haigermoser kritisierte die Haltung der SPÖ und der Gewerkschaft. Eine weitere Attacke startete er gegenüber Wirtschaftsminister Ditz und bezeichnete diesen als Feind der Wirtschaft und als „Zwangskämmerer“. Der grüne Sozialsprecher Karl Öllinger vermisste den Schutz der Handelsangestellten bei der neuen Regelung bezüglich des 8. Dezembers (Audioquelle 116, Mittagsjournal vom 15. November 1995). Mit den Agrarsubventionen stand ein weiteres hitzig diskutiertes Thema auf der Tagesordnung. Die SPÖ sah sich als Anwalt der Interessen der „kleinen Bauern“. SPÖ-Agrarsprecher Harald Hofmann warf der ÖVP vor, lediglich die Interessen der Großgrundbesitzer zu vertreten. Der ÖVP-Agrarsprecher Georg Schwarzenberger wiederum kritisierte das SPÖ-Modell und sah darin keinerlei Vorteile für die Kleinbauern.

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Audioquelle 116

aus dem Mittagsjournal vom 15. November 1995
NR-Sondersitzung: Debatte um den 8. Dezember

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In der Sondersitzung des Parlaments standen drei Dringliche Anfragen zu den Themen EU, Budget und Verpackungsverordnung am Programm. Die Freiheitlichen attackierten SPÖ-Finanzminister Staribacher auf Grund seiner Budget- und Finanzpolitik. FPÖ-Abgeordneter Gilbert Trattner sah in Staribacher den Sündenbock für die Regierung. Staribacher warf im Gegenzug den Freiheitlichen Unkenntnis vor. In der Rede der ÖVP-Abgeordneten Maria Fekter wurden die Gräben innerhalb der Koalition deutlich sichtbar. Sie warf Staribacher Unfähigkeit vor und bezichtigte ihn, die Unwahrheit gesagt zu haben. Der LiF-Wirtschaftssprecher Peter wollte darin das endgültige Ende der großen Koalition erkannt haben. Der Grüne Wirtschaftssprecher Alexander van der Bellen beschäftigte sich mit den Fragen der Freiheitlichen an den Finanzminister und konnte darin wiederum kein wirtschaftliches Konzept entdecken (Audioquelle 117, Mittagsjournal vom 16. November 1995).

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Audioquelle 117

aus dem Mittagsjournal vom 16. November 1995
Sondersitzung des Nationalrats

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Außerhalb des Parlaments forderte der ÖVP-Wirtschaftsminister Ditz rasche Liberalisierungsschritte im Bereich der Telekommunikation und eine Neuregelung des amtlichen Strompreisverfahrens. Die Arbeiterkammer Wien präsentierte einen Bericht zur Situation der Lehrlinge, die weiterhin unzufriedenstellend sei. Als außerparlamentarische Interessensvertretung präsentierte das Volksgruppenzentrum einen gemeinsamen Vorschlag zu einem einheitlichen Volksgruppengrundgesetz. Eine Umsetzung sollte nach der nächsten Wahl erfolgen. Die EU-Kommissarin Monika Wulf-Mathies unterzeichnete währenddessen einen Fördervertrag für strukturschwache Regionen in Österreich und lobte dabei den breiten Konsens bei der Programmerstellung in Österreich.

Einen Monat vor der Nationalratswahl wurde die Marathonsitzung des Nationalrates am Folgetag wieder aufgenommen. Der Wahlkampf dominierte die Sitzung. Die Ladenöffnungszeiten am 8. Dezember standen formell im Mittelpunkt der Diskussionen. FPÖ-Sozialsprecher Sigisbert Dolinschek argumentierte die Zustimmung zum ÖVP-Antrag mit dem prognostizierten Kaufkraftabfluss. Die SPÖ-Abgeordnete Annemarie Reitsamer attackierte vor allem die ÖVP und sah in dem ÖVP-Vorschlag einen Wortbruch. Der grüne Sozialsprecher Öllinger wähnte zukünftige Kollektivverträge auf Grund der aktuellen Regelung in Gefahr. Das Liberale Forum unterstützte die Regelung wegen der liberalen Grundwerte. Für den Abgeordneten Volker Kier wurden erstmals in der österreichischen Geschichte Individualrechte von Arbeitnehmer in einem Gesetz festgeschrieben. ÖVP-Sozialsprecher Feurstein glaubte nicht daran, dass Unternehmen auf Grund der neuen Regelung Druck auf die Arbeitnehmer ausüben würden. SPÖ-Sozialminister Franz Hums widersprach dem. Im Arbeitnehmerschutzbereich sah Hums den einzelnen Arbeitsnehmer als zu schwach an, um seine Interessen zu vertreten (Audioquelle 118, Mittagsjournal vom 17. November 1995).

Parallel zu der Sitzung präsentierte FPÖ-Obmann Jörg Haider seinen „Vertrag für Österreich“. Demnach sollte die Staatsverschuldung nicht mehr als 60 Prozent des BIP betragen und die Steuerquote auf 40 Prozent gesenkt werden. Die Frage der Zwangsmitgliedschaft der Kammer sollte per Volksabstimmung geklärt werden. Außerdem sprach sich Haider erneut für eine konsequente Abschiebepraxis bei ausländischen Straftätern aus Österreich aus. Die illegalen Ausländer sollten demnach in Österreich nicht mehr geduldet werden. Vorbild für den Vertrag war der „Contract with America“ des konservativen US-Politiker Newt Gingrich. Auf Regierungsebene gab Familienministerin Sonja Moser unter dem Titel „Zeitbudget Familie“ eine Pressekonferenz. Dabei wurde die Arbeitsteilung in den Familien thematisiert. Frauen engagierten sich demnach zu 60 Prozent für die Familien. Moser sprach sich für qualifizierte Teilzeitarbeitsplätze, lebensbegleitendes Lernen, ausreichend Kinderbetreuungsplätze und Verbesserung der Wiedereinstiegsmöglichkeiten nach der Karenz aus.

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Audioquelle 118

aus dem Mittagsjournal vom 17. November 1995
NR-Sondersitzung: Debatte um den 8. Dezember geht weiter

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39. Die Parteiprogramme

Im Zuge der Wahlkampfberichterstattung auf Ö1 wurde am 18. November die Gesprächsreihe mit den Wirtschaftssprechern der Parteien fortgesetzt. Der Freiheitliche Helmut Haigermoser war in der samstäglichen Sendereihe „Im Journal zu Gast“. Er sprach in diesem ausführlichen Interview über die Rolle von Obmann Haider im Wahlkampf, die Wirtschaftskompetenz der FPÖ, die Probleme bei den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Österreich, die wirtschaftlichen Konsequenzen der Neuwahlen, das sinkende Preisniveau in Österreich, die Gefährdung des Wirtschaftsstandorts, ein mögliches Sparpaket nach den Wahlen und die Finanzierbarkeit der Pensionen (Audioquelle 119, Mittagsjournal vom 18. November 1995). Ein weiterer Bericht befasste sich mit den Urabstimmungen der Wirtschaftskammer über die Frage der Pflichtmitgliedschaft. Ausgelöst wurde die Diskussion durch eine Fernsehdiskussion zwischen FPÖ-Obmann Haider und SPÖ-Vorsitzenden Vranitzky im Wahlkampf am 21. September 1994. Die bevorstehende Urabstimmung stand ganz im Schatten der Nationalratswahlen. Wirtschaftskammerpräsident Maderthaner sah gerade in der Diskussion um die Ladenöffnungszeiten am 8. Dezember, wie wichtig eine einheitliche Interessensvertretung der Wirtschaft ist.

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Audioquelle 119

aus dem Mittagsjournal vom 18. November 1995
Im Journal zu Gast: Helmut Haigermoser

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Die Nachrichten zu Wochenbeginn wurden durch den sich abzeichnenden Friedensschluss bei den Friedensverhandlungen in Dayton und die Wahlen in Polen überlagert. Die Berichterstattung zur Nationalratswahl fand dementsprechend weniger Platz. Im Wahlkampf beschäftigten sich die Klubobleute der Parlamentsparteien mit der Sondersitzung des Nationalrates in der vorangegangenen Woche. SPÖ-Klubobmann Kostelka sah in dem gemeinsamen Abstimmungsverhalten der ÖVP und der FPÖ eine zukünftige Koalition gegen die Sozialpartnerschaft. Außerdem erkannte er Anzeichen für das Ende der Konsensdemokratie in Österreich. ÖVP-Generalsekretär Othmar Karas sah eine Vielfalt an Mehrheitskonstellationen. Karas bezeichnete die SPÖ als „beleidigt“ und nicht mehr staatstragend (Audioquelle 120, Mittagsjournal vom 20. November 1995). FPÖ-Obmann Haider hatte bei der ORF-Pressestunde die österreichischen Sozialversicherungen kritisiert und schlug vor, die Sozialversicherungen unter Staatshoheit zu stellen. Der Chef der Staatsbeamtengewerkschaft, Siegfried Dohr, entgegnete, dass in diesem Fall alle 26.000 Sozialversicherungsangestellten Beamte würden. Verkehrsminister Viktor Klima gab ein Interview bezüglich der anstehenden Vergabe des zweiten GSM-Netzes in Österreich. Er erwartete sich keine wesentlichen Änderungen der vorliegenden Angebote.

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Audioquelle 120

aus dem Mittagsjournal vom 20. November 1995
Interpretationen des parlamentarischen Abstimmungsverhaltens bei Sondersitzungen

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Der FPÖ-Abgeordnete Meischberger stand im Mittelpunkt der innenpolitischen Berichterstattung. Er wurde beschuldigt, beim Transfer des Fußballers Peter Stöger an den FC Tirol Geld übernommen und so Gelder an der Steuer vorbei transferiert zu haben. Meischberger sprach bei einer Pressekonferenz von unhaltbaren Vorwürfen und von einer aufkommenden Medienjustiz. Eine Flut von Klagen gegen Spitzenfunktionäre anderer Parteien und gegen Journalisten sollte demnach folgen (Audioquelle 121, Mittagsjournal vom 21. November 1995).

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Audioquelle 121

aus dem Mittagsjournal vom 21. November 1995
Meischberger zur angeblichen Schwarzgeldaffäre

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In einer großen Serie zur Wahlkampfberichterstattung wurde wöchentlich im „Journal-Panorama“ jeweils ein/e Spitzenkandidat/in während der Wahlkampftour begleitet. Am 21. November wurde die grüne Spitzenkandidatin begleitet. Sie wurde dabei während Wahlkampfauftritten im Gespräch mit Bürgern und bei Reden aufgenommen. Im Rahmen des Mittagsjournals wurde diese Reportage vorangekündigt. Die weiteren innenpolitischen Beiträge hatten keinen direkten Bezug zum Wahlkampf der wahlwerbenden Parteien. Sowohl die vorläufige Bilanz der OMV als auch die Folgen für die Manager im Zuge des AMAG-Skandals wurden beleuchtet.

In zwei Beiträgen kamen am 22. November jeweils die Spitzenkandidaten der Regierungsparteien zu Wort. ÖVP-Obmann Schüssel bezog zur aktuellen Pensionsproblematik Stellung. Er sprach sich für ein vernünftiges, schrittweises Hinaufsetzen des Pensionsantrittsalters aus. Seinem Regierungspartner SPÖ warf er indirekte Angstmacherei vor. Bundeskanzler Vranitzky kam im Zusammenhang mit der bevorstehenden Einführung einer europäischen Einheitswährung zu Wort. Bei einem internationalen Diskussionsforum sah er auf Grund der bereits existierenden fixen Bindung des Schillings an die europäischen Hartwährungen für Österreich keine großen finanzpolitischen Umstellungen als notwendig an. Vielmehr sprach er sich dafür aus, in der Bevölkerung für Vertrauen zu werben.